Im Moment besucht Ibrahim Al Kadir einen Integrationskurs in Köln (Foto: Ibrahim Al Kadir)

Es ist Samstagnachmittag im Januar. Im Kulturwissenschaftlichen Zentrum der Universität Göttingen herrscht Hochbetrieb. Tische werden hin und her gerückt, Leinwände aufgebaut, Poster aufgehängt. Die Vorbereitungen für die 3. Göttinger Nacht des Wissens laufen auf Hochtouren. Auf einmal taucht ein junger Mann auf. An einem Ausstellungsstand entsteht nun ein kleiner Tumult. Die Arbeiten werden unterbrochen. Es wird sich herzlich umarmt, gelacht. Eine Szene von Menschen, die sich längere Zeit nicht gesehen haben, die sich mögen. Bei dem jungen Mann handelt es sich um Ibrahim Al Kadir. Fröhlich unterhält er sich mit den Leuten, hilft überall ein bisschen mit. Er hat sichtlich Spaß. Für das Ereignis an der Universität ist er extra aus Köln angereist, erzählt er in einem Interview. Um seine Freunde zu unterstützen. Seine Freunde, das sind die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gebärdensprachlabors der Universität. Dass er sie aber nicht so oft sieht, hat vor allem einen Grund. Obwohl er in Göttingen wohnt und lebt, hält er sich im Moment überwiegend in Köln auf. Dort besucht er einen Integrationskurs. Denn Ibrahim ist aus Syrien geflüchtet.
In Göttingen werden zwar auch Integrationskurse für Geflüchtete angeboten, jedoch nur für Hörende. Ibrahim ist jedoch seit seinem zweiten Lebensjahr gehörlos. Das heißt, dass er sich in Gebärdensprache verständigt. In Syrien sprechen die Gehörlosen Syrische Gebärdensprache und schreiben Arabisch. In Deutschland hingegen wird Deutsche Gebärdensprache (DGS) gesprochen. Diese unterscheidet sich von der Syrischen in ähnlichem Maße, wie es die beiden Lautsprachen tun. Da Ibrahim sich aber auch durch die Schriftsprache verständigen können muss, lernt er neben DGS auch Deutsch zu schreiben und zu lesen. All dies wird den gehörlosen Geflüchteten in den speziellen Integrationskursen beigebracht. Da der nächstgelegene in Köln stattfindet, muss er regelmäßig in die Stadt am Rhein. Dass die Kurse so weit entfernt liegen würden, sei ein großes Problem, erklärt er. Man müsse oft lange warten, bis so ein spezieller Kurs stattfinden würde. Dadurch zieht sich der ganze Prozess der Asylgewährung in die Länge. Auch bis gehörlose Geflüchtete die Suche nach Arbeit beginnen können, vergeht einige Zeit. Denn wie hörende Flüchtlinge müssen sie ein Zertifikat mit dem Sprachlevel B1 ablegen. Ohne das Zertifikat gebe es viele Einschränkungen, meint Ibrahim. „Kommunikation in Deutschland kann ich lernen, aber wichtig ist dieses Zertifikat.“
Direkt nach der Ankunft in Deutschland habe er sich mittels Stift und Papier auf Englisch unterhalten, erzählt Ibrahim. Das habe sehr geholfen. Später suchte er nach Gebärdensprachdolmetscher/innen, die International Sign sprechen konnten; also eine aus verschiedenen Gebärdensprachen generierte Kommunikationsform, die vor allem bei Tagungen mit gehörlosen Teilnehmer/innen aus vielen verschiedenen Ländern eingesetzt wird. Dolmetscher/innen, die die Syrische Gebärdensprache sprechen, gibt es in Deutschland keine. Er fand DGS-Dolmetscher/innen, aber es gab mit ihnen anfangs erhebliche Probleme bei der Kommunikation. Diese konnte nur über schriftliche Notizen und Gesten ablaufen. Er führt weiter aus: Mit der Zeit sei die Verständigung besser geworden. „Ich konnte dann meine Ziele weiterverfolgen.“
Ein weiteres Problem sei auch gewesen, dass es schwierig war, mit den Dolmetscher/innen Termine zu vereinbaren. Diese haben oft einen sehr vollen Terminkalender. Wie wichtig ein Gebärdensprachdolmetscher ist, erfahren wir auch bei unserem Interview. Zwar kenne ich durch verschiedene DGS-Kurse die Deutsche Gebärdensprache, anwenden kann ich sie aber nicht so richtig. Deshalb sitzt Frau Dr. Annika Herrmann mit uns in dem kahlen Seminarraum des Kulturwissenschaftlichen Zentrums der Uni. Sie ist Leiterin des Gebärdensprachlabors in Göttingen und kennt deshalb die Deutsche Gebärdensprache auch als alltägliche Arbeitssprache. Sie stellt meine Fragen in DGS. Das Gespräch wird von einer Kamera aufgenommen. Anschließend übersetzt eine staatlich geprüfte gehörlose Dolmetscherin das Video für meine Auswertung in Schriftsprache.
Grund dafür, dass bei dem Gespräch kein Simultandolmetscher anwesend ist, ist die Frage der Finanzierung. „Hier fehlt es der Universität Göttingen noch an Erfahrungswerten,“ meint Herrmann. Für gehörlose Mitarbeiter seien in den letzten Jahren erste Fortschritte gemacht worden. Und Studierende werden normalerweise vom Sozialamt begleitet. Doch bei Ibrahim handelt es sich nicht um einen Studenten. Außerdem befindet sich im Moment noch kein gehörloser Flüchtling als Student an der Universität. Die Zuständigkeit sei in vielen Fällen noch nicht geklärt, berichtet Herrmann. Ob die Finanzierung funktioniert „werden wir erst herausfinden, wenn die Situation eintritt und gehörlose Flüchtlinge sich an der Universität einschreiben möchten,“ erklärt sie.
Dass Ibrahim aus den Flüchtlingscamps herauskam, hat er vor allem der vielen Eigeninitiative zu verdanken. Denn für gehörlose Flüchtlinge stellen zum Beispiel Behördengänge ungeahnte Probleme dar. Für Hörende sind schnell Dolmetscher/innen gefunden. Die Behörden sind einigermaßen auf sie vorbereitet. Hörende Geflüchtete können so viel schneller die benötigten Formulare ausfüllen. Sie können ihren Asylantrag stellen und haben so schneller die Möglichkeit, die Massenunterkünfte zu verlassen. Gehörlose haben mit den Behörden vor allem ein Problem, wie Ibrahim bemerkt: „Die kannten keine gehörlosen Flüchtlinge.“ Doch auch diese Hürde hat er erfolgreich aus dem Weg geräumt. Durch Herumfragen, die Suche nach Leuten in einer ähnlichen Situation und viel Erklären hat dann die weitere Organisation funktioniert.

Im Göttinger Studententheater spielte er neben hörenden und gehörlosen Menschen. (Foto: Ibrahim Al Kadir)

Auf der Suche nach anderen Gehörlosen, habe er schließlich das Gebärdensprachlabor der Uni Göttingen gefunden, erzählt Ibrahim. Die Menschen, die hier arbeiten, bestehen aus hörenden und gehörlosen Menschen. Viele von ihnen beherrschen neben der Deutschen auch noch andere Gebärdensprachen. Über die Forschungsgruppe kam er auch in die DGS-Kurse. Sie werden an der Universität für hörende Studierende angeboten. Was Ibrahim dabei besonders half: dass die Kurse von gehörlosen Dozenten gegeben wurden, die ihm immer wieder Fragen beantworteten. „Wie schreibt man diese Gebärde? Wie gebärdet man dieses Wort?“
Auch als im August 2016 am Theater im OP in Göttingen erstmals ein Theaterstück in Laut- und Gebärdensprache aufgeführt wurde, war Ibrahim dabei. Er spielte Hänsel, eine der Hauptfiguren in dem Stück „Mal wieder Grimm“. Das tat er in Deutscher Gebärdensprache, knapp ein Jahr nachdem er in Deutschland angekommen war. Annika Herrmann sagt deshalb auch mit gutem Grund über ihn: „Ibrahim ist ein hochintelligenter aufgeschlossener junger Mann, der sehr motiviert und vor allem sprachbegabt ist.“ Er würde in sehr hoher Geschwindigkeit die Deutsche Gebärdensprache und Deutsch lernen. Bei Herrmann machte Ibrahim auch eine Hospitanz und begleitete sie an der Uni. Dadurch lernte er auch das Gebärdensprachlabor näher kennen.
Besonders interessiert ihn, wie man mit dem Computer Gebärdensprach-Forschung betreiben kann. Das kommt vor allem daher, dass er bereits an der Universität in Syrien Informatik studierte. Sein Berufswunsch als Informatiker zu arbeiten, hat sich auch in Deutschland nicht geändert. Aus Interesse besuchte er auch eine IT-Konferenz der Gehörlosen in Hamburg. Seine Augen leuchten auf, als er erzählt, dass er dort viele gehörlose Menschen getroffen habe. Viele seien von der Uni gekommen. Er habe viele neue Wörter gelernt. Und er habe sich über neue Forschungen informiert. Deutschland sei in diesem Sinne sehr fortgeschritten, meint er. Etwas traurig fügt er hinzu, dass es in Syrien leider nicht so viele gehörlose IT-Fachleute geben würde. Es sei auch sehr schwierig, diese für eine Konferenz zusammenzubringen.
Ursprünglich war Ibrahim mit seiner Familie nach Ägypten geflohen. In Ägypten habe es aber aufgrund seiner Gehörlosigkeit viele Probleme gegeben, erzählt er. Er konnte dort nicht lernen und nicht arbeiten. Deshalb beschloss er, mit einigen Freunden nach Europa zu gehen; ohne seine Familie. Die will er irgendwann nachholen, meint er. Aber das sei schwer. Eigentlich hatte er geplant, zu seinem Bruder nach Dänemark zu gehen. Nach einigen Gesprächen mit anderen Syrern entschied er sich aber dann für Deutschland und landete schließlich in Göttingen.

Ibrahim auf dem Weg nach Göttingen (Foto: Ibrahim Al Kadir)

Leider gibt es in Göttingen bis jetzt keine anderen gehörlosen Geflüchtete. Dafür hat Ibrahim aber in Köln einige getroffen. Er selbst kenne ungefähr 16 gehörlose Geflüchtete. Viele würden aus dem Iran kommen. Aber auch aus Syrien seien einige dabei, davon viele Freunde. Insgesamt wird die Zahl der gehörlosen Geflüchteten in Deutschland von den Gehörlosenverbänden auf 176 Personen geschätzt. Allerdings werden sie nicht offiziell statistisch erfasst. Viele von ihnen könnten auch noch unentdeckt in Flüchtlingscamps leben. Deshalb wird vermutet, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt.
Den neuankommenden Flüchtlingen könne er jetzt helfen, meint Ibrahim. Er erkläre ihnen, dass die deutsche Kultur anders sei als im arabischen Raum. Besonders der Umgang zwischen Männern und Frauen sei unterschiedlich. Es sei wichtig, pünktlich zu Terminen zu erscheinen. Außerdem müsse man Respekt zeigen. Und man dürfe die Dinge nicht zu locker nehmen. Sonst könne man abgeschoben werden. „Das muss man vielen erklären,“ schildert Ibrahim die Situation. Auch beim Organisieren kann er helfen; eines Tages vielleicht mal dolmetschen. Einmal war er bereits als gehörloser Dolmetscher vor Gericht geladen. Er lerne die deutsche Kultur kennen und passe sich an.
Dies kann auch Annika Herrmann bestätigen. „Er bemüht sich auf allen Ebenen, sich der neuen Situation anzupassen und sich in Deutschland zu integrieren,“ erklärt sie und fügt hinzu: „Viele, die nicht so gut Englisch können wie er, sind dabei noch stärker Kommunikationsbarrieren ausgesetzt.“ Denen will Ibrahim nun helfen. Seine Freunde zu unterstützen, scheint ihm wichtig zu sein. Um seine Freunde an ihrem Ausstellungsstand in der Universität zu unterstützen, ist er auch extra aus Köln nach Göttingen gefahren. Um mit ihnen zu reden. Um immer mehr zu lernen. Dass es ihm Spaß macht, ist zu sehen. Sein breites Lächeln und die begeistert funkelnden Augen erkennt man schon von weitem.