6.30 Uhr. Der Wecker klingelt. Shareefa zieht sich die Bettdecke aus dem Gesicht und ganz langsam ihre Augenlider hoch. Für einen kurzen Moment ist sie verwirrt und muss sich orientieren. An ihrem Fenster zieht grauer Schneeregen Schlieren. Von der Straße hört sie…nichts. Da fällt es ihr wieder ein. Statt in ihrer Heimat befindet sie sich im kleinen ruhigen Örtchen Boskoop in den Niederlanden, wo sie ein Jahr als Au Pair arbeiten wird.

So könnte jede beliebige Geschichte einer Abiturientin beginnen, die vor dem Studium noch einmal raus aus ihrer Heimat möchte: raus aus der gewohnten Umgebung, in ein anderes Land oder sogar auf einen anderen Kontinent. Shareefa Jihan Anieza aber ist 28 Jahre alt und kommt aus Jakarta, Indonesien. In Deutschlands Studenten-WGs hängt mittlerweile in jeder zweiten Wohnung eine Weltkarte mit Ländern zum Freirubbeln. Peru, Südafrika, Kanada, halb Europa versteht sich von selbst – die Karte wird immer bunter. Für die meisten indonesischen Jugendlichen bleiben Reisen auf andere Kontinente ein unerfüllter Traum. Klar, ein paar Rücklagen brauchen wir auch, einen Job neben der Uni oder zumindest großzügige Eltern. Dann aber steht uns die Welt offen. Und zwar im buchstäblichen Sinne: mit dem deutschen Reisepass kann man laut dem Finanzdienstleister Arton Capital in 158 Länder visumsfrei einreisen. Damit belegt Deutschland den ersten Ranglistenplatz weltweit. Ob Thailand, Argentinien oder Neuseeland. Deutsche beschweren sich selbst darüber, im Ausland nur auf Ihresgleichen zu treffen. Es folgen einige europäische Länder, die USA, aber auch beispielsweise Singapur und Südkorea. Indonesien liegt recht abgeschlagen auf Platz 69. Indonesier können in 58 Länder visumfrei einreisen.

Shareefas (links) erste Stopp auf der umständlichen Reise nach Europa: Bali (Foto: Natascha Holstein)

Zaza, wie Shareefa sich mir vorstellt, als ich sie auf Bali während meines Auslandssemesters kennenlerne, kann kaum glauben, wie selbstverständlich es für mich ist, Ländergrenzen und Ozeane zu überqueren. Über Skype möchte sie mir ein Einblick in ihr derzeitiges Leben geben. Sie erzählt, dass sie nach der Schule in Jakarta, auf Druck ihrer Mutter, ein Studium angefangen hat, das sie aber nach einem Jahr abbrach. Wie hätte ihr Leben ausgesehen? Ihre Kultur ist sehr traditionell und konservativ. Studieren, dann einen Job finden. Letztendlich am wichtigsten wäre es aber geworden, einen Mann zu finden. Zaza verdreht die Augen. Das reicht ihr nicht. Die kleine, abenteuerlustige Indonesierin möchte unabhängig sein. Im Sommer 2015 beschließt sie, nach Bali zu ziehen. Ein Urlaubsparadies, Mekka der Flitterwochen-Reisenden oder auch der Rucksacktouristen. Vor allem durch sie wächst in Zaza schnell der Wunsch, einfach ihren Rucksack zu schultern und Indonesien hinter sich zu lassen. Ihr Ziel: Europa. „Mein größter Traum ist es, nach Holland oder Deutschland zu reisen!“, erzählt sie mir damals. Als sie grinst, glänzen ihre Zähne silbern. Eine Zahnspange mit Ende 20. Die Krankenversicherung in Deutschland macht es möglich, dass die Meisten dieses unbeliebte Ding mit 18 Jahren los sind. Shareefa hat sich freiwillig eine Zahnspange einsetzen lassen, als sie selbst genug Geld dafür zusammen hatte. Da war sie 26. Ich sah mich am Stand um: türkises Wasser, bunte Sonnenschirme, die Füße im Sand, irgendwo klimperte jemand auf einer Gitarre. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass jemand aus dem, was mir wie ein Paradies vorkam, weg möchte. Warum Europa? „Die Menschen sind so offen und wollen so viel mit ihrem Leben anfangen. Den europäischen Frauen reicht es meist nicht, Irgendjemandes Frau zu sein“, antwortete sie mir. Na gut, meinte ich, komm mich einfach besuchen. „Einfach“ ist daran für sie leider nichts, wie sie mir erklären musste. Angefangen bei der finanziellen Hürde.

Was vom selbst verdienten Geld übrig bleibt, geht erst einmal an die Eltern – Reisepläne müssen da warten

Das Legatum Institut, eine Wohltätigkeitsorganisation aus Großbritannien veröffentlicht jedes Jahr einen Wohlstandsindex, der sich aus wirtschaftlichen Faktoren, aber auch aus dem Zugang zur Bildung, der Gesundheitsvorsorge und dem Umweltschutz, zusammensetzt. Indonesien belegt 2016 den 61. Platz von 149 aufgeführten Ländern. Besonders besorgniserregend ist der Aspekt der persönlichen Freiheit. Hier belegt Indonesien den 128. Platz. Deutschland befindet sich insgesamt an elfter Stelle der Weltrangliste. Also mal eben nach dem Schulabschluss auf einen Kontinent am anderen Ende der Welt? Für die meisten Indonesier unvorstellbar. Auch Zaza muss warten, bis sie selbst genug Geld verdient hat und sich die Reise leisten kann. Ihren Eltern will und kann sie nicht auf der Tasche liegen. Sie können nicht mehr arbeiten, sie würden finanziell unter dem indonesischen Durchschnitt liegen. Mit 18 hat Zaza ihren ersten Job. Einen Teil des verdienten Geldes nutzt sie, wie auch ihre Schwester, um ihre Eltern zu unterstützen. Sie guckt auf einmal ganz ernst. Das sei doch selbstverständlich, auch heute noch schickt sie einen Anteil ihres Gehalts zu ihren Eltern. Sie springt von Job zu Job, hält es nicht lange an einer Stelle aus. Was ihr erster Nebenjob genau war, weiß sie schon gar nicht mehr. Als ihr Jakarta zu eintönig wird, kommt sie nach Bali. Sie erklärt: „Ich wollte etwas anderes sehen. Andere Kulturen.“ Die balinesische, deren einzigartigen Hinduismus sie nicht kannte, aber auch die der Touristen, die auf der Insel Urlaub machten. Sie wollte raus, die Welt entdecken. Wenn sie übers Reisen redet, ist von dem ernsten Gesichtsausdruck keine Spur mehr.

Das Wetter ware eine große Umgewöhnung: Zaza unter trübem holländischen Himmel (Foto: Shareefa Jihan Anieza)

Mittlerweile ist sie die Zahnspange los und lächelt noch strahlender. Sie lächelt sowieso ziemlich viel. Ob sie es manchmal unfair findet, dass sie aufgrund ihres Geburtsortes viel weniger Chancen hat? „Nein, das ist nicht unfair. Alles passiert aus einem Grund. Und jetzt bin ich ja da, wo ich immer sein wollte“, antwortet Zaza und streicht sich eine lange braune Haarsträhne hinters Ohr. Schicksal also. Sie bereitet gerade das Frühstück für die beiden Kinder ihrer Gastfamilie vor. Heute gibt es Pancakes, die mögen die Kleinen besonders. Der Himmel ist noch immer trüb. Das sind die kurzen Momente, in denen sie ihre Heimat vermisst: „Abgesehen von meiner Familie und Freunden fehlt mir tatsächlich das Essen und die Sonne total. Nicht aber die Hitze.“ Was ihr außerdem nicht fehlt, ist der Verkehr. In Jakarta gleicht zu Fuß über die Straße gehen oder Fahrradfahren einem Selbstmordkommando. Wer mit seinem Auto während der Rush Hour von einem Ende der Stadt zum anderen möchte, sollte einige Stunden Zeit einplanen. Seit etwas über einem halben Jahr ist sie jetzt in Boskoop. Hier ist es ruhig, sie fährt mit dem Fahrrad umher oder mit dem Zug in den nächst größeren Ort, Den Haag oder Rotterdam. Au Pair wollte sie werden, da es der einfachste Weg ist, zu reisen, ohne ständig pleite zu sein. Natürlich mag sie es aber auch, Kinder um sich zu haben. Andernfalls würde sie das tagtägliche zwölf Stunden-Entertainment-Programm wohl kaum durchhalten. Die Kinder sind vier Jahre und sechs Monate alt. Während sich um das Baby noch meist die Gastmutter kümmern muss, bespaßt Zaza vor allem den Vierjährigen. „Er liebt Verstecken spielen und ist auch echt gut darin“, erzählt sie, während der kleine Blondschopf im Hintergrund vielsagend grinst. In dem dreistöckigen Haus gibt es genug Möglichkeiten, sich zu verkriechen, sodass Zaza sich oft ganz schön anstrengen muss, um ihn zu finden.

Nur mit Glück bekam Zaza ein Visum für die Niederlande – oder war es Schicksal?

Bevor sie aber endlich in die Niederlande einreisen konnte, arbeitete sie als Au Pair in Australien. Auf Bali lernte sie so viele Menschen aus so verschiedenen Gegenden kennen, die teilweise jahre-, zumindest aber monatelang, nur auf Reisen waren. Sie wollte auch andere Länder und Kontinente sehen. Seit ihrer Kindheit möchte Zaza nach Holland. Vielen Indonesiern geht es so, was aufgrund der Kolonialgeschichte der beiden Länder erst einmal seltsam klingt. Doch jetzt ist Europa für die jungen Indonesier ein Symbol für Offenheit und Freiheit und die Niederlande nun einmal das europäische Land, mit dem sie am meisten verbindet. Zaza beantragt also, nach wenigen Monaten auf Bali, ein Visum für die Niederlande. Doch sie hört sechs Monate nichts von der Botschaft. Sie beschließt, es in Australien zu versuchen. Hier hat sie einige Freunde und es war noch ein Stück näher an ihrer Heimat. Diesmal dauerte die Antwort nur zwei Wochen, ganz aufgeregt öffnete sie den Briefumschlag. Doch die Antwort in dem Schreiben lautete: abgelehnt. Zaza hätte ihren Antrag nicht genug begründet, die australische Botschaft warf ihr vor, in Australien bleiben zu wollen und nicht wieder nach Indonesien zurück zu kehren. „Ein bisschen stimmte das vielleicht sogar“, kichert Sie in das Mikrofon. Tatsächlich hat sie zunächst kein Rückflugdatum genannt. Aufgeben will sie aber noch nicht. Sie bittet einen australischen Freund für sie zu bürgen. So bekommt sie letztendlich doch noch ein Visum. Die 28-Jährige war überglücklich. Sie zögerte nicht und buchte einen Flug nach Australien. Sie suchte sich über das Internet eine Familie, bei der sie nun etwa ein halbes Jahr als Au Pair arbeitete. Da klein beigeben nicht zu ihren Stärken gehörte, wollte sie es weiter in den Niederlanden probieren.

Auch in Sydney hat Zaza für ein halbes Jahr als Au Pair gearbeitet (Foto: Shareefa Jihan Anieza)

„Ich habe auf Bali, während ich gearbeitet habe, eine Vertreterin einer Au Pair-Agentur aus Holland kennengelernt. Sie hat mir umsonst mit dem Visum geholfen“, erzählt Zaza. Kurz bevor ihr Visum für Australien nach sechs Monaten  ausgelaufen ist, bekam sie einen Brief von der Niederländischen Botschaft. Ihr wurde ein Visum erteilt. Das, sagt Zaza mir mit einem Augenzwinkern, meine sie, wenn sie von Schicksal redet. Ohne die Agentur, da ist sie sich sicher, hätte sie nie ein Visum für die Niederlande bekommen. Dann hätte sie nicht die Chance gehabt, Brüssel, Hamburg, Paris und Amsterdam zu besuchen. Dann hätte sie Australien verlassen und wieder nach Jakarta zurückkehren müssen. Doch durch ein bisschen Glück konnte sie nach Europa kommen. Wie fühlt sich das an, endlich hier zu sein? „Unglaublich“, sagt Zaza und sieht sich in ihrem großen Zimmer um, „einfach unglaublich!“. In Boskoop wohnt sie alleine im obersten Stock des geräumigen Hauses. Ihre Wohnung in Bali war etwa vierzehn Quadratmeter groß, ohne Küche und mit winzigem Bad. In Europa will sie nun bleiben, wenigstens bis sie nicht mehr als Au Pair arbeiten darf. In Deutschland ist das Höchstalter 27. Ihr nächstes Ziel soll Norwegen oder Dänemark werden, hier kann sie noch zwei weitere Jahre als Au Pair beschäftigt werden. Auch danach kann sie sich nicht wirklich vorstellen, wieder nach Indonesien zu gehen. Ihre Freunde und Familie halten sie für ein bisschen verrückt: „Meine Mutter sagt, ich bin zu mutig für eine indonesische Frau.“ In Europa sind selbstständige, gleichberechtigte Frauen selbstverständlich. Das sind Werte, die der 28-Jährigen gefallen.

„Ich hoffe, ich habe mit 30 genug Geld zusammen gespart, um hier bleiben zu können und zu studieren“, so Zaza über ihre Zukunft. Sie klingt müde, aber optimistisch. Sie hat nun, nach stundenlangem Spielen mit den Kindern und Abendbrot-Vorbereitungen, Feierabend. Auslaugend ist die Arbeit schon. Es ist jetzt 19.10 Uhr. An manchen Tagen fallen ihr um acht bereits die Augen zu. Aber das Kinderlachen ist es ihr wert. „Außerdem träume ich dann einfach schon von meinem nächsten Trip nach Spanien!“ Solche Träume habe sie früher auch schon gehabt, in Indonesien. Sie hätte zu dem Zeitpunkt aber nicht damit gerechnet, dass sie sich tatsächlich so schnell erfüllen könnten. Bald möchte sie einen Flug nach Barcelona buchen. Sie gähnt. Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Morgen muss sie wieder früh aufstehen. Zaza schenkt mir ein letztes schläfriges Lächeln und drückt auf den roten Hörer, um unser Skype-Telefonat zu beenden.