Foto ©Maja

Schüsse auf dem Schulhof1

Foto: Fassade des Gymnasiums, ©Maja

Die Mittagssonne kitzelt meine Nase, als ich wartend auf dem Parkplatz des Salzgitteraner Gymnasiums stehe. Ich bin hier, um eine gute Freundin abzuholen. Maja ist 19 Jahre alt, besucht die dreizehnte Klasse und macht gerade ihr Abitur. Auch sie nennt den Landkreis – meistens liebevoll – „Salzghetto“. Der ruf der Stadt eilt ihr voraus.

Die Stimmung auf dem Pausenhof ist noch etwas komisch; erst vor ein paar Wochen gab es hier einen Amoklauf-Alarm. Ein Passant habe gesehen, wie jemand mittags mit einem Gewehr bewaffnet das Schulgebäude betrat. An dem Tag des Alarms saß Maja in ihrer Deutsch-Abitur-Vorprüfung. „Die Aufsicht hat gesagt wir sollen weiterschreiben. Da haben manche Schüler schon geweint vor Angst.“ Es hat eine Weile gedauert, bis die Schüler*innen nach einem Anruf bei ihrem Tutor die Klausur-Aufseherin davon überzeugen konnten, die Prüfung zu pausieren. Der Alarm wurde anscheinend nicht wirklich ernst genommen. Klar war aber, dass es sich weder um einen Fehlalarm, noch um eine Übung handelte.

„Wir haben dann mit Stühlen und Tischen die Tür verbarrikadiert und uns auf den Boden gesetzt,“ berichtet Maja. Einige von ihren Klassenkamard*innen hatten Todesangst – verständlich, wenn man die Nachricht bekommt, ein aktiver Amokläufer hielte sich in diesem Moment auf dem Schulgrundstück auf. Später hieß es seitens der Polizei, der Alarm sei von einem jungen Mann absichtlich vorgetäuscht worden.

Amokläufe an Schulen sind in Deutschland zwar eine Seltenheit, – zuletzt hatte am 10. Juni 2022 in Nordrhein-Westfalen an einer Hochschule in Hamm-Lippstadt ein 34-Jähriger eine Lehrbeauftragte getötet und weitere Student*innen verletzt – jedoch sind Vorfälle mit Schusswaffen im Landkreis Salzgitter keine Seltenheit. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu Schießereien. Im Mai 2018 wird eine Frau auf offener Straße vor ihren Kindern erschossen; 2019 fallen tödliche Schüsse auf einen jungen Mann im Stadtteil Lebenstedt; erst vor ein paar Tagen wird ein 29-Jähriger im benachbarten Landkreis Peine angeschossen. Auch zu nicht-tödlicher Waffengewalt kommt es immer wieder.  

Maja sagt man hört hier öfter Schüsse :„das ist irgendwie schon normal“. Viele von ihren Freunden haben Schreckschusspistolen, um Angst machen zu können, wenn es Stress gibt, so heißt es. Da wird aus Erfahrung gesprochen.

Verständlich also, dass so ein Amokalarm eine echte Bedrohung darstellt, und die Vor-Abiturprüfungen unterbrochen werden müssen. Erst Stunden später, als eine der letzten noch im Schulgebäude verblieben Klassen, wurden sie vom Sondereinsatzkommando evakuiert. 

„Früher war das noch nicht so“, erzählt mir Henrik ein paar Tage später. Er ist 58 Jahre alt und besuchte das Gymnasium in den 80ern. Er ist nach seinem Realschulabschluss auf die Hochschule gewechselt und wurde auch dementsprechend behandelt, sagt er. Wir sitzen gemeinsam auf einer Bank im städtischen Rosengarten. In der einen Hand hält er seinen Coffee-to-Go, in der anderen eine Zigarette. „Die haben mich das halt auch spüren lassen,“ er nimmt einen tiefen Zug. „Für die Lehrer war ich halt immer der dumme Junge von der Realschule.“

Er wirkt etwas geschafft von den unschönen Erinnerung.Ganz nach dem Motto, der ist ja eh bald weg. Er seufzt, „Und im Endeffekt hat mich der Spaß fünf Jahre gekostet.“ Nachdem er nicht bis zum Abitur geschafft hat, begann er eine Techniker-Ausbildung. Nach zwei weiteren Jahren Arbeitsalltag hat er in der Abendschule sein Abitur nachgeholt und studiert.Vielleicht hätte es keinen wirklichen Unterschied gemacht, aber von den Lehrer*innen nicht so ausgrenzend behandelt worden zu sein, hätte ihm die Schulzeit wohl doch verschönert.

Als Kind einer Arbeiterfamilie gab es bei ihm so etwas wie Studieren nicht. Seine Mutter arbeitete lange als Sekretärin im Rathaus, bevor sie schwanger wurde. Sein Vater hat schon immer bei der Salzgitter Maschinenbau AG gearbeitet. Jahre lang. Trotzdem hatten sie nie viel Geld. „Keiner hatte bei uns viel Geld in der Klasse. Das war halt eben so. Hat mich aber auch nicht groß gestört damals,“ erinnert Henrik sich.

Niedersachsen ist im Ländervergleich eines der ärmsten. Die Armutsbetroffenheit von Kindern und Jugendlichen liegt heute laut einem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands bei  21,3 Prozent. Das heißt, jedes fünfte Kind lebt am Existenzminimum; bei durchschnittlich 30 Schüler*innen in einer Klasse kann man sich ausrechnen, wie vielen es da an einer Menge fehlt.

Die Schule schimmelt

Auch von Außen sieht man dem Gymnasium die Armut an. Ein Beton-Klotz in mitten von noch mehr Beton-Klötzen. Das beinahe schon brutalistische Abbild ist geschmückt mit Bildern von vergangenen Abit-Mottos; der jeweilige Abitur-Jahrgang darf nach ihrem ausgewählten Motto ein Bild an die Außenwand der Aula malen. Die älteste Malerei ist von 1986. „Denken ist Glückssache“, steht da, in verfärbter, verblasster Schrift und ist Zeuge davon, wie lange hier schon nichts mehr getan wurde. 

Foto: Aula des Gymnasiums, ©Maja

„Eigentlich war alles immer ganz schön; wir haben uns wohlgefühlt. Das Einzige war, dass es des Öfteren mal von der Decke getropft hat. Aber es wird jetzt ja auch einiges renoviert.“ Katharina ist 22 Jahre alt und hat vor zwei Jahren hier ihr Abitur gemacht. Selten gab es auf den Schultoiletten Seife oder gar Papierhandtücher. „In mehreren Räumen durften manche Fenster nicht geöffnet werden, weil die Gefahr bestand, dass sie rausfallen und kaputt gehen.“ Während an anderen Schulen schon früh mit iPads und elektronischen Tafeln gearbeitet wird, müssen die Gymnasiast*innen in Salzgitter-Bad sich noch lange mit Over-Head-Projektoren zufrieden geben. Von dem Schimmel in manchen Ecken mal ganz abgesehen. Salzgitter hat einfach kein Geld. 

Die Stadt hat die zweit-höchste Pro-Kopf-Verschuldung in Niedersachsen und einen hohen Migrant*innenanteil. Im Jahr 2017 schickte Bürgermeister Frank Klingebiel (CDU) einen Brandbrief an die Landesregierung, in dem er Zuzugsbeschränkungen für geflüchtete Personen forderte; eine Forderung, der später auch stattgegeben wurde. Im Rahmen eines Integrationsfonds gibt es finanzielle Hilfen vom Bundesland Niedersachsen. Auch die Arbeitslosenquote liegt im Dezember 2023 mit 9,4 Prozent weit über dem niedersächsischen Durchschnitt. 

Lehrer*innen am Limit

Katharina und ich schlendern durch die Innenstadt. Der Wind ist kühl in meinem Gesicht. Es ist ein etwas regnerischer Nachmittag und wir sind auf dem Weg zu einem kleinen Café am Klesmerplatz, als sie mir von Schulerlebnissen erzählt, die wohl leider schon einige Schüler*innen mal gemacht haben.

Foto: Sporthalle, © Pixabay

„Vor allem mit manchen Sportlehrern haben ich und meine Freundinnen uns machmal unwohl gefühlt,“ sagt sie, ihre Hände ruhen in ihren Jackentaschen. „Ein Lehrer hat uns Mädchen häufiger unangebrachte Komplimente für unsere Sportkleidung gemacht,“ sie rauft sich durch die feuchten Haare. „Wir wussten damals auch schon, dass es falsch war, aber wir wussten alle nicht so recht, wohin damit. Also haben wir uns alle eher gemeinsam drüber lustig gemacht.“ Aber so lustig ist das gar nicht. Offizielle Zahlen gibt es dazu zwar nicht, aber spricht man das Thema mal bei seinen weiblichen Personen im Freundeskreis an, so ergibt sich schnell, dass so gut wie jede Frau zu Schulzeiten sexualisierende Kommentare oder sexueller Belästigung durch Lehrer*innen erlebt hat – auch, wenn man sie erst im Nachhinein als solches erkennt. 

Vor allem zu unangebrachten Hilfestellungen im Sportunterricht sei es immer wieder gekommen, erzählen sowohl Katharina als auch Maja. „Da überschreiten die Lehrer häufig Grenzen. Man weiß dann auch nicht so recht, was man da tun kann. Immerhin steht man als Schülerin in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Lehrer,“ bestätigt die junge Abiturientin. Manch andere Dinge, würden einem erst so richtig im Nachhinein bewusst.

Inzwischen sind Katharina und ich im Café angekommen und sitzen mit zwei dampfenden Tassen Cappuccino an einem kleinen, gemütlichen Tisch am Fenster. „Frau Müller war Alkoholikerin,“ Katharina schüttelt den Kopf und trinkt einen Schluck. Von der siebten bis zur neunten Klasse war Frau Müller ihre Erdkundelehrerin. Öfter hatte sie sich zu Schulzeiten gefragt, warum die schon etwas ältere Dame immer so komisch roch – nach Rauch und etwas beißendem – und warum sie immer so schnell laut wurde. Dann erfuhr sie es von dem Vater einer Freundin, der selber Lehrer am Gymnasium war. Schwerer Alkoholismus. Katharina schüttelt den Kopf, „sie hatte wohl auch immer einen Flachmann in der Tasche.“ Im Nachhinein findet sie es verstörend, dass Frau Müller noch so lange unterrichten durfte, obwohl anscheinend alle von ihrem Alkoholproblem wussten. „Wir hatten alle Angst vor ihr. Jede Stunde hat sie uns ohne Grund angeschrien.“ Sie seien damit auch als Klasse des Öfteren zur Schulleitung gegangen, doch nie sei etwas passiert. Ein paar Jahre später hieß es, Frau Müller sei in den Ruhestand gegangen und ließ so eine erleichterte Schülerschaft zurück.

Alkoholismus bei Lehrer*innen ist in etwa genauso häufig zu beobachten, wie in der Bevölkerung insgesamt. 6,7 Millionen Menschen im Alter zwischen 18 und 64 konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. 1,6 Millionen Menschen dieser Altersgruppe gelten als alkoholabhängig. Regelmäßiger Alkoholkonsum mindert in jeder Berufssparte die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit. Hierzu schreibt das deutsche Schulportal, das besonders Lehrkräfte eine bedeutende Vorbildrolle für Kinder und Jugendliche tragen. Es wird erwartet, dass Pädagog*innen eine erhöhte Sensibilität für die Bedürfnisse von jungen Menschen aufweisen. Schlüsselkompetenzen wie Präsenz, Autorität, Wertschätzung, angemessene Grenzsetzung in der Schüler*innen-Lehrer*innen-Beziehung sowie Selbstreflexion und Selbstregulierung sind unverzichtbar für eine erfolgreiche Ausübung dieses Berufs; jedoch leider anscheinend nicht bei allen.

Kinder bleiben Kinder

Auch unter den Schüler*innen kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Maja und ich sitzen im Auto Richtung Zuhause, als sie mir davon erzählt, wie schlimm Mobbing am Gymnasium in den letzten Jahren zugenommen hat. „Durch das Ausgrenzen hatte es manche Schüler halt nicht so leicht,“ seufzt sie. Das hindere die Lerngemeinschaft. Viele der Schüler*innen seien Einzelgänger*innen, ohne richtige Freundesgruppen. Die blieben dann bei Gruppenarbeiten einfach übrig. Sich zu integrieren falle den meisten schwer.

Laut der letzten PISA-Studie von 2022 wurden in Deutschland mehr als zwölf Prozent der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler häufiger an ihrer Schule gemobbt. Ein großer Teil des Mobbings verlief dabei auf psychischer Ebene, teilt die Online-Plattform Statista mit: „Acht Prozent aller 15-Jährigen wurden mehrmals im Monat von ihren Mitschülern verspottet, knapp fünf Prozent erlebten es mehrmals im Monat, dass unangenehme Gerüchte über sie verbreitet wurden. Knapp sechs Prozent der 15-Jährigen berichteten aber auch von Mobbing, das physische Gewalt involvierte.“

Maja selbst wurde noch nie gemobbt – zum Glück! Nur den ein oder anderen Spruch, so sagt sie es, bekommt jeder mal ab. Vor ein paar Jahren setzte sich ein Schüler gegen seinen Mobber bei den Bundesjungendspielen mit einer rostigen Schere zur Wehr, erzählt die Abiturientin. Wirklich was passiert sei jedoch nichts; alle blieben unverletzt. Jedoch zeigt das Beispiel, was passiert, wenn Mobbing ausartet. „Wenn man sich nicht mehr zu helfen weiß, greift man halt manchmal zu Gewalt.“

Vor allem durch Social Media hat die verbale Gewalt zugenommen. Gemeine Kommentare und ärgernde Posts sind mitunter zum Alltag geworden. „Das war früher auf jeden Fall nicht so. Da musste man sich noch keine Gedanken darüber machen, was am besten auf Instagram zu posten ist,“ schmunzelt Henrik, als ich ihn auf das Thema anspreche. „Da kam es höchstens mal zu dem ein oder anderen Telefonstreich.“ Er fährt sich durch das ergrauende Haar. Wir sitzen immer noch gemütlich im Rosengarten; eine kleine Oase inmitten des harten Alltags. „Damals haben die Lehrer aber auch noch mit Schüsseln geworfen, wenn wir unanständig waren,“ lacht er und begutachtet seine vom Alter gezeichneten Hände. „Das war schon nicht ohne,“ fährt er fort. „Eine andere Zeit war das… dort zu Schule gehen würde ich heutzutage aber trotzdem nicht, wenn ich nicht müsste. Aber da machste nix.Ich leb‘ immer noch gern hier.“
Foto: Rosengarte, ©Clea
  1. Hinweis: Alle in diesem Beitrag vorkommenden Personen wurden anonymisiert. Alle genannten Namen wurden zum Zwecke des Schutzes der Privatsphäre geändert. ↩︎

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