Der Traum von der eigenen Praxis, der Gegner Corona und wie die Natur uns heilen kann

Priska van der Vorst hat sich den Traum von der eigenen Praxis erfüllt
(Foto: Sophie Blomeyer)

Die erste Welle Entspannung kommt ganz plötzlich, noch bevor man die Praxisräume betritt. Als an diesem Sonntagabend der rotgetigerte Kater und der Buddha auf der Bank im Garten als erste die Besucher begrüßen. Hier scheint die Welt innezuhalten, Vögel zwitschern und die Blätter des Waldes auf der anderen Straßenseite rascheln im Wind. Stress und Anspannung sind am Tor geblieben. Heilpraxis Am Blauen See verkündet das kleine Schild auf dem Holzstuhl und lotst weiter zu dem gesonderten Bereich in dem Einfamilienhaus. Heilpraktikerin Priska van der Vorst hat sich hier den Traum von der eigenen Praxis erfüllt, knapp ein halbes Jahr, bevor Corona alle in einen Lockdown schickte. Aber die Praxis hat diesen Sturm überstanden, dem so viele Betriebe zum Opfer fielen, und der warme Raum mit Liege und zwei Sesseln empfängt weiter jeden, der auf die gesundheitliche Unterstützung der Natur zurückgreifen möchte. Wunderbar still ist es in der Praxis und von den beiden Tassen auf dem Sesseltischchen steigt der Duft von Tee auf. Abschalten heißt es hier. Wortwörtlich, Handys und alle anderen Geräte, die uns den Tag über Erinnerungen und Nachrichten funken, werden vor den Terminen zum Schweigen gebracht. Wann war das Handy zuletzt ausgeschaltet? Nicht nur Standby-Modus? Lang genug ist es her, dass man zuvor lieber die PIN raussucht.

Burnout-Coaching, traditionelle chinesische Medizin, insbesondere Akupunktur bietet van der Vorst an, dabei ist ihr besonders die Kombination mit der klassischen Schulmedizin wichtig. „Beispielsweise Blutdrucktabletten muss man im Laufe des Lebens dann immer mehr nehmen, da genügt dem Körper eine einzige nicht. Er hat aber auch einen Grund dafür, dass er den Blutdruck so hochgetrieben hat“, erläutert sie, „ich als Heilpraktiker versuche den Grund zu finden und dagegen zu arbeiten. Eventuell kann man dann die Tablettenanzahl reduzieren, in Absprache mit dem Arzt.“ Mit ihrer Praxis möchte sie mehr Bewusstsein schaffen, dass es mal ein anderes Medikament sein oder man in manchem Fall gar ganz von Medikamenten loskommen könne, wenn man eine Mischung aus Behandlung, alternativer Medizin und gesunder Ernährung praktiziert.
Oft kommen die Patienten in die Heilpraxis Am Blauen See, wenn die Schulmedizin nicht weiterweiß. Idiopathisch heißt die Diagnose in solchem Fall, also eine Symptomatik, die sich nicht genau einer Ursache zuordnen lässt. Das Leid der Patienten mildert das nicht, ein neuer Denkansatz muss her. Eben diese Erfahrung hat Priska van der Vorst zur Naturheilkunde gebracht. Ihre Tochter war früher viel krank, erzählt sie. Allergien, starke Ohrenentzündungen, eine Milchunverträglichkeit, die sich in Atemnot äußert, und hinzu kam ein geschwächtes Immunsystem durch die ständige Medikamentengabe. „Mit einer Kombination aus HNO-ärztlicher Behandlung und Naturheilkunde konnten wir den Teufelskreis dann durchbrechen“, beschreibt sie das Schlüsselerlebnis, das sie das Thema weiterverfolgen lässt. Die ersten Kurse an Heilpraktikerschulen besucht sie aus Interesse, zu dem Zeitpunkt weniger mit dem Ziel einer abgeschlossenen Ausbildung. Besonders fasziniert sie die traditionelle chinesische Medizin, die sich dadurch auszeichnet, dass sie den Menschen als Gesamtbild erfasst und die Behandlung sowohl Ernährung und Kräutertherapie als auch Bewegung, Akupunktur und -pressur beinhalten kann. Entsprechend umfangreich fällt eine vorherige Anamnese aus, bis zu drei Stunden habe sie schonmal im Einzelfall aufgebracht. Dabei lässt sich van der Vorst neben den körperlichen Beschwerden auch die Lebensumstände schildern, um sich ein komplettes Bild machen zu können: „Dann erarbeite ich in Absprache mit dem Patienten einen Fahrplan, wo es gesundheitlich hingehen soll, welcher Weg dafür am besten ist, welche Kosten damit verbunden sind und wie oft er vorbeikommen müsste.“

Der Traum von der eigenen Praxis

Manchmal tragen die Lebensumstände zu dem Problem bei, sie zu ändern grenzt an Unmöglichkeit. Dabei ist das beste Beispiel für diese Herausforderung Priska van der Vorst selbst: Nach 23 Jahren Kundenbetreuung und Projektmanagement entscheidet sie, beruflich umzusatteln. Doch als berufstätige alleinerziehende Mutter ist es schwierig, sich zusätzlich Zeit für eine Ausbildung zu schaffen. Drei Anläufe und drei Schulen braucht es, um sich bis zur Abschlussprüfung zu arbeiten, aber van der Vorst hat ein Ziel und gibt nicht auf. Rückblickend sieht sie das als Gewinn: Sie durfte von vielen Experten lernen und verschiedene Herangehensweisen erfahren. 2019 ist es dann soweit: In einer „alles-oder-nichts-Prüfung“ absolviert sie im Alter von 49 Jahren die Prüfung zum Heilpraktiker. Den Umbruch nutzt sie, um in die Selbstständigkeit zu wechseln und eröffnet im selben Jahr ihre Heilpraxis Am Blauen See in Königswinter. Die Räume befinden sich in ihrem Eigenheim. Der Wunsch nach freier Gestaltung und flexiblen Arbeitszeiten überwog die Befürchtung, nach einem Arbeitstag nicht abschalten zu können, wenn die Praxis nur ein Stockwerk tiefer ist. „Ich bin vorher jeden Tag nach Köln gependelt. Da kam ich in der Regel dann schon gestresst am Arbeitsplatz an“, erinnert sich van der Vorst. Dann stiehlt sich ein Zwinkern in ihre Augen. „Außerdem bin ich kein Morgenmensch. So wie es jetzt ist, kann ich die Arbeitszeiten selbst beeinflussen und meine Kräfte einteilen.“ Bei den Patienten komme das Konzept gut an: Van der Vorst vergibt Termine auch am Abend, sodass viele nach Feierabend in ihrer Praxis den Alltagsstress hinter sich lassen.

„Wenn ich die ganze Corona-Zeit über hätte Miete zahlen müssen – ich hätte kapituliert.“

Nicht zuletzt sind die eigenen Praxisräume eine finanzielle Entscheidung. „Das Abenteuer sich selbstständig zu machen, birgt immer ein finanzielles Risiko. Ich habe ja hier den Platz und so erhöhen sich dann nur die Nebenkosten, da kann man gerade in der Gründungsphase nachts besser schlafen“, erzählt van der Vorst und lässt den Blick über die Einrichtung zu dem großen Strandbild schweifen. Das sanfte Abendlicht lässt den Holzsteg so echt wirken, als könne man aus der Praxis hinaus in den Urlaub spazieren. Ihre Schultern straffen sich. „Als dann Corona kam, hat mich vor allem diese Entscheidung gerettet. Wenn ich die Zeit über hätte Miete zahlen müssen… -mit der Coronahilfe wäre es eventuell noch eine Zeit lang gut gegangen“, schiebt sie ein und nimmt einen Schluck von ihrem Tee, wie um Kraft zu sammeln für den nächsten Gedanken, „aber ich glaube, dann hätte ich auch kapituliert.“ Zu einer Eröffnungsfeier kam es für die gerade erst gegründete Praxis schon nicht mehr, ihre Patienten sind zunächst vor allem Freunde und dann Freunde von Freunden. So ziehen sich die Kreise über Mundpropaganda weiter. In den drei Jahren hat sich ein Patientenstamm gebildet und trotz Corona kommen weiter Neukunden. Inzwischen werden sie wieder mutiger und Einschränkungen der Pandemie aufgehoben.

Corona sorgt für Verschiebungen im Krankheitsbild

In der Heilpraxis Am Blauen See gibt es kein Wartezimmer. Das ist auch nicht nötig, Termine werden fest und mit Zeitpuffer vergeben. So besteht kein Risiko, sich bei anderen Patienten anzustecken. Corona zeigt sich in der Praxis allerdings noch auf andere Weise: „Es wird häufiger von Schlafstörungen berichtet. Wer bereits Neigungen zu Depressionen oder Angst hat, bei dem verstärken sich die Symptome zurzeit“, fasst van der Vorst es zusammen. Allerdings gäbe es auch das Gegenstück: Patienten, die ihr berichten, wie gut ihnen Homeoffice tut, wie sehr wirbleibenzuHause und die Reduzierung auf die wichtigen und notwendigen Kontakte den Stress verringert haben. Meist handle es sich dabei um eher introvertierte Personen, die mehr in ihrem Element sein dürfen. Doch auch für ruhigere Gemüter bedeutet die Situation Belastung. Bewegung beeinflusst die Stimmung positiv, sowie die richtige Ernährung. Da verfolgt die traditionelle chinesische Medizin andere Ansätze als die westliche. Sie unterteil die Lebensmittel und Kräuter nach Wärmetendenzen. Scharfes Essen beispielsweise wird der Rubrik warm zugeordnet, das Glas Milch, das die Schärfe einer Chilischote ausgleichen kann, gehört zu den kalten Lebensmitteln. Die traditionelle chinesische Medizin macht sich diese Wirkungsweisen zu nutzen. „Die deutsche Ernährung ist oft kühlend, dabei leben wir in nicht sehr warmen Breitengeraden“, erzählt van der Vorst. Sie empfiehlt, den Ernährungsschwerpunkt auf die Nahrungsmittel zu legen, die in unseren Breitengeraden wachsen. „Zitrusfrüchte haben ebenfalls eine kühlende Wirkung und wachsen in entsprechend warmen Breitengeraden.“ Hiesige Angebote der Natur mehr zu nutzen, wirkt sich auch auf die Kräuterheilkunde der traditionellen chinesischen Medizin aus – und bietet Forschungsbedarf. So ersetze beispielsweise der hiesige Baldrian die chinesischen Kräuter zur Entspannung, erklärt die Heilpraktikerin. Aber auch Melisse und Johanniskraut wirken beruhigend, es müssen Kombinationen und die Wirkung im Individualfall berücksichtigt werden. Deswegen erhalten Patienten von van der Vorst eine aufs Krankheitsbild zugeschnittene Liste von Lebensmitteln, an der sie sich daheim orientieren können.

Das „Wartezimmer“ beansprucht der Buddha für sich
(Foto: Sophie Blomeyer)

In der Praxis hingegen kann die weitere Behandlung mit Akupunktur erfolgen. Ziel dabei ist es, mit Hilfe feiner Nadeln im Körper Stagnationen aufzulösen, damit das Chi, gesunde Energie, wieder besser fließt. Dafür platziert van der Vorst die Nadeln an den Meridianen, Energiebahnen, deren Punkte nah an der Oberfläche verlaufen. Diese zu finden ist gar nicht so leicht, da jeder Körper individuelle Maße hat. Die traditionelle chinesische Medizin hat für dieses Problem bereits seit ein paar Jahrtausenden die perfekte Lösung gefunden: Das Cun. Dabei handelt es sich um eine individuelle Maßeinheit, die jeder mit sich trägt, nämlich die Breite des eigenen Daumens. Hat man Akupunkturpunkte gefunden, so kann man in einer Sitzung an mehreren Körperstellen gleichzeitig arbeiten, ein Vorteil gegenüber anderer Behandlungsmöglichkeiten.

Akupunktur trotz Nadelphobie – ist möglich.

Einigen Menschen ist aber schon beim Gedanken an die Nadeln nicht ganz wohl. Zwei von van der Vorsts Patienten haben sogar eine Nadelphobie, diese aber inzwischen so weit überwunden, dass eine Ohrakupunktur möglich ist. „Wenn Personen mit einer so starken Angst vor Nadeln sich schon bis zu mir gewagt haben, freue ich mich immer sehr“, lächelt van der Vorst. „Man kann ja noch so viel anderes machen außer Akupunktur. Beispielsweise über die Kräuterheilkunde oder die Ernährung, Qi Gong, also Bewegungstherapie, Gua Sha, die Schabetechnik oder mit Hilfe von Bachblüten und Schüßler-Salzen.“ Bleibe man bei der Arbeit mit Akupunkturpunkten, könne man in Richtung Akupressur gehen und so die Nadeln meiden. Die Kosten einer Akupunktur werden von den privaten Krankenkassen zum Teil übernommen. Da zu dieser Behandlungsform bereits Studien zu der Wirkung im Rückenbereich und Knie vorliegen, zahlen auch gesetzliche Krankenkassen die Akupunktur, allerdings nur, wenn diese von Ärzten ausgeführt wird. „Dabei ist die Ausbildung zum Akupunkteur im Rahmen der traditionellen chinesischen Medizin viel ausführlicher“, ärgert sich van der Vorst. „Wir können das mindestens genauso gut.“ Immerhin ist die Akupunktur einer der Stützpfeiler der traditionellen chinesischen Medizin. Werden die Behandlungskosten nicht übernommen, müssen die Patienten selbst zahlen. Besonders bei der aktuellen Wirtschaftslage würde das nun für manche ein Problem, bedauert van der Vorst: „Es wird dann zum Luxus, mal schmerzfrei zu sein, ohne auf Tabletten zurückgreifen zu müssen und dem Magen eine Pause zu gönnen.“

Den Menschen zuhören sei die Devise. Van der Vorst erklärt, dass vieles ohne Studien schnell als Placeboeffekt abgestempelt würde. „Damit wird dem Patienten stückweit das individuelle Körpergefühl abgesprochen.“ Bei Stress empfiehlt sie häufig eine Heiße Sieben, 10 Schüßler-Salze der Nummer Sieben, die mit heißem Wasser aufgegossen werden. Das helfe der Muskulatur und der Psyche zu entspannen und erleichtere so das Einschlafen oder sei gut bei Muskelkater. „Daran glaube ich nicht.“, bekam die Heilpraktikerin einige Male zu hören. Sie lacht. „Das ist den Schüßler-Salzen aber herzlich egal.“

Das Schönste an ihrem Beruf? Van der Vorst strahlt: „Es ist wunderbar, die Leute auf ihrem Gesundungsweg zu begleiten. Und man wird mit den Jahren immer besser, weiser, sammelt mehr Wissen. Es ist einfach toll, immer weiter lernen zu dürfen.“ Sie möchte ihre Heilpraxis Am Blauen See weiter aufbauen und mehr Menschen Mut machen, zu der klassischen Schulmedizin auch auf die natürliche Heilwirkung zurückzugreifen.
Was, wenn es irgendwann so viele Patienten sind, dass das Abschalten nach einem Arbeitstag nicht mehr so leichtfällt?
Dann werde sie doch darüber nachdenken, sich außerhalb Räume zu mieten, sagt van der Vorst. Bis dahin werden Buddha und Kater weiter die Besucher Am Blauen See empfangen.

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