Sie fängt an zu weinen während sie spricht. Der Schock sitzt noch immer in ihren Knochen. Das Studium hilft ihr sich abzulenken und die schrecklichen Erinnerungen für eine kurze Zeit zu vergessen. Margherita ist eine 24-jährige gebürtige Italienerin aus Bergamo, die in Göttingen ihr Master in Soziologie macht und den Bergamo-Schock hautnah miterlebt hat.

„Gefühlt jede halbe Stunde sah ich einen Leichenwagen an meinem Fenster vorbei fahren…“.

Die Corona-Pandemie hat die ganze Welt verändert. Menschen dürfen sich in vielen Orten nicht mehr sehen, haben Ausgangssperren und sitzen in Quarantäne. Eine Zeit, die für niemanden vorstellbar war, bis vor kurzem. Italien hat es ganz besonders stark getroffen. Knapp 61.000 Tote (Stand: 07.12.2020) zählen zu den Opferzahlen des Coronavirus in diesem kleinen Land. „Wir können uns dieses Ausmaß nicht vorstellen und auch nicht verstehen, was die Einwohner fühlen und dort tatsächlich erleben“. Margherita erzählt gerne davon, auch wenn es ihr sehr schwer fällt, darüber zu sprechen. Sie möchte alle wissen lassen, dass Corona kein Scherz ist und dass jeder betroffen sein kann.

Eine einfache Auslandsstudentin, mit einem italienischen Dialekt und ohne Familie in Göttingen. Diese wohnt in Italien, genau wie ihr Freund Massimo, den sie vor Ausbruch der Corona-Pandemie jeden Monat durch abwechselnde Besuche sehen konnte. „Heute telefonieren und skypen wir jeden Tag.“ sagt sie während des Kochens und lächelt glücklich dabei. Sie ist ein lebensfroher und dankbarer Mensch, der gerne lernt, Zeit mit seinen Freunden verbringt und auch gerne aktiv Sport macht. Dankbar ist sie deshalb, weil zumindest die Technik ihr das Sehen ihrer geliebten Menschen in Italien ermöglichen kann.

Der zweite Lockdown

Nun haben wieder alle Einrichtungen des Hochschulsports und jegliche Freizeitangebote geschlossen (Stand: 07.12.2020). Im Sommer waren Freizeitaktivitäten noch möglich und sie lenkte sich gerne ab, um die Erlebnisse im ersten Lockdown in Bergamo, zumindest für eine kurze Zeit, zu vergessen. Wenn Massimo zu Besuch war, gingen die beiden mit großer Freude durch die, heute nur mit Nasen-Mund-Bedeckung betretbare, Innenstadt oder machten große Spaziergänge und aßen zusammen Sushi im Busumo am Wilhelmsplatz. Heute muss sie sich mit ihrem Studium ablenken. Statt mehrere Freunde zu treffen, mit Möglichkeiten wie sich gemütlich in ein warmes Café zu setzen oder etwas in einem Restaurant zu verzehren, muss sie ihre sozialen Kontakte begrenzt halten.

Ihre Wohnung ist in einem Studentenwohnheim in Göttingen. Ein kleines Badezimmer, die Pantryküche und ihr 90×200 cm Bett füllen gemeinsam mit ihrem Schreibtisch 15 qm aus. Ein großes Fenster erfüllt ihre vier Wände mit Licht. Sie lässt es meistens zu, da sie andere Temperaturen gewohnt ist. Kuschelig und warm mag sie es gern, während sie an ihrem Schreibtisch sitzt und lernt, skypt, oder isst. Sie kocht sich gerne italienisches Essen zuhause. Ihr Leibgericht: Pasta alla Norma.

Bild: Vasiliki Vourvachaki

Sie verbringt nun noch mehr Stunden am Schreibtisch, aber das findet sie nicht so schlimm, denn die Erinnerungen an kürzlich Vergangenem und noch immer Präsentem, ist viel schlimmer.

Februar 2020 – der noch „normale“ Monat

Margherita besuchte mit ihrem Freund für zwei Wochen eine Freundin in Italien, unwissend was bald auf alle zukommen würde. Sie hörten in den Nachrichten nur Corona-Meldungen und nahmen diese nicht so ernst, da das Virus ja (noch) weit weg war.

„Das Makabere ist, dass ich nach diesen Meldungen mit meinem Freund ein Spiel auf dem Handy gespielt habe, in welchem man einen Virus entwickeln muss, das die ganze Welt infiziert. Es ist heute unvorstellbar für mich dies noch einmal zu tun. Damals habe ich mir das alles niemals vorstellen können und erlaubte mir einen so dummen Scherz.“

erzählt sie und schaut nachdenklich, mit einem traurigen Blick, in die Luft. Wahrhaftig sieht man ihr an, dass sie das stark mitnimmt. Mit jedem angefangenen Satz fällt es ihr immer schwerer die Sätze zu beenden. Sie trinkt zwischendurch ihren Schokotee, um ihre Gefühle zu sammeln.

Die Reise in eine plötzlich fremde Heimat

Sie reiste wieder zurück nach Deutschland. Als im März die Fallzahlen in die Höhe schossen und Flughäfen nicht mehr im Betrieb waren, hat sie die Entscheidung getroffen wieder zurück nach Italien zu reisen, um die bevorstehende Zeit, von den Regierungen getroffenen Entscheidungen, wie Ausgangssperren und Quarantäne, bei ihrer Familie und ihrem Freund zu verbringen. Wer wusste zu diesem Zeitpunkt schon, wann es ein nächstes Wiedersehen gegeben hätte.

Am 15 März um 16 Uhr las sie einen Artikel über die Grenzschließungen zwischen Deutschland und der Schweiz. Im selben Moment entschied sie sich den nächsten Zug zu nehmen, welcher um 18 Uhr los fuhr. Ihre Angst war zu extrem, ihre Familie und Freunde für eine sehr lange Zeit nicht mehr wieder sehen zu können. „Tatsächlich habe ich Glück gehabt, weil ich den letzten Zug, mit der Möglichkeit nach Italien zu fahren, bekommen habe.“ Zufrieden und glücklich sieht sie aus, während sie von ihrem Erfolg spricht, der sie nah zu ihrer Familie brachte, und lächelt strahlend, mit einem gekränkt, versteckten Lächeln.

Insgesamt stieg sie fünf mal um und je mehr sie sich den südlichen Bahnhöfen näherte, desto mehr schockierte sie die zunehmende Leere an den Bahnhöfen. Nach der Grenzkontrolle, durch die sie als italienische Staatsbürgerin problemlos durchfuhr, traute sie nach Ankunft am Bergamo Bahnhof ihren Augen nicht. „Diese Leere hat es dort noch nie gegeben. Die Fußgängerzone gegenüber des Bahnhofs ist normalerweise voll mit Leben und ich hatte das Gefühl in einer Geisterstadt zu sein“. Die Angst nahm bei ihr immer mehr zu, welche durch die dort erlangten Eindrücke ausgelöst wurde und sich heute in ihren Augen, während sie davon erzählt, wieder spiegelt.

Bild: private Aufnahme

Angekommen Zuhause, musste sie erst einmal schlucken, da diese Eindrücke zu viel für sie waren. In den Straßen, in denen sie einst mit Freunden spazierte, mit ihren Eltern essen ging, als Kind spielte, gab es nichts mehr, was an Leben erinnerte. Stattdessen Kranken- und Leichenwagen, die im Wechsel die Straßen entlang fuhren und mit Sirenen immer und immer wieder an das unfassbare Unglück erinnerten.

Einsam und allein

„Ich begab mich zunächst zwei Wochen selber in Quarantäne,…“ erzählt sie und fährt mit spürender Schwierigkeit fort „…in einer Wohnung eines Freundes, der diese normalerweise über Airbnb vermietet.“ Margheritas Angst war zu groß, ihre Eltern anzustecken, falls sie sich während und vor der Reise infiziert haben sollte. Nun war sie allein. Zwei Wochen allein in einer fremden Wohnung, nicht weit von ihren Eltern oder ihrem Freund entfernt, aber sie war vernünftig, doch dafür traurig und ängstlich. Sie hat Tage gebraucht, bis sie realisieren konnte, was dort vor sich ging.

Zu der Zeit waren Semesterferien und sie selbst hatte vorher alle ihre Klausuren und Hausarbeiten geschrieben, daher konnte sie schwer etwas zur Ablenkung finden. Sie hörte die Kirchenglocken, welche täglich mehrmals zu Gedenken jedes einzelnen Verstorbenen der Stadt läuteten. „Das war der pure Psychoterror. Die Glocken, die Sirenen, die Leere…“ Sie hält inne und weint wieder.

„Kurz danach wurde beschlossen, dass nur einmal am Tag die Glocken läuten sollten, für alle Menschen, die verstarben, weil das zusätzlich eine enorme psychische Belastung für die Einwohner war“.

Die kleine Wende

Nach den zwei Wochen ging sie zu ihren Eltern und eine große Erleichterung füllte ihr Herz. Dort verblieb sie drei Wochen und ging im Anschluss zu ihrem Freund, bei dem sie zwei Monate verblieb. Ihr Freund ist Arzt an einer Pflegestation und war daher oft arbeiten. Zu dieser Zeit begann das digitale Semester. „Endlich konnte ich wieder mit dem Studium anfangen und mich damit ablenken. Ich habe in diesem Semester mehr Credits erreicht, als ich eigentlich vor hatte.“ Für ihr Studium war die Corona-Phase etwas Gutes. Sie wollte sich mit dem Lernen ablenken und nicht mehr an das Schreckliche denken. Dies ist ihr gut gelungen.

Auch ihrer Beschäftigung als studentische Hilfskraft konnte sie aus Italien aus nachgehen. Sie konnte dort über Zoom Interviews führen, die für sie überraschend gut gelaufen sind. Dort wo viele keine Konzentration mehr haben würden, hat sie die Pandemie ausgenutzt, um etwas Gutes für ihr Studium und ihre Beschäftigung zu tun. Sie beweist Stärke, Willen und Motivation für das, was sie will und sie lässt sich nichts kaputt machen.

Aber es kam auch der Zeitpunkt, an dem sie wieder nach Deutschland kommen musste. Sie musste auch präsent sein und zudem lockerten sich die Maßnahmen, auch für Italien. Die Flughäfen nahmen wieder mehr Betrieb auf, der Tourismus war wieder möglich und auch sie ließ die Angst hinter sich und schaute nach vorne.

Bilder: private Aufnahme / Vasiliki Vourvachaki

Zurück in Deutschland

Kurz vor dem zweiten Lockdown hatte alles fast wieder seine Normalität erreicht. Sie ging zur Uni, in die Bibliotheken, lernte dort und ging auch an ihren Arbeitsplatz. Ihr Freund besuchte sie ab und an und auch sie flog im Sommer wieder nach Italien. Jetzt ändert sich vermutlich wieder alles. Sie skypet jeden Tag mit ihrem Freund und anderen Freunden, telefoniert mit ihren Eltern und während sie dies tut, strahlt sie mit einem bedrückten Lächeln. Sie freut sich während dessen sie traurig ist, nicht in ihrer Nähe sein zu können und Besorgnis, um die Gesundheit ihrer Familie, ist leider auch immer noch aktuell.

„Ich habe keine Angst um mich, ich bin jung und gesund. Aber ich mache mir Sorgen um meine Eltern, um ältere und kranke Menschen im Allgemeinen, deshalb möchte ich vorsichtig sein und nichts riskieren.“

Corona ist keine Freundin

Vier ihrer Familienmitglieder waren an Corona erkrankt. Alle konnten sich erholen, doch ihr Onkel hat Folgeschäden. Der Vater einer ihrer engsten Freundinnen, den sie selbst sehr gut kannte, starb alleine und ihre Freundin durfte nicht zu ihm. Margheritas Tränen in den Augen bilden sich aus Mitleid mit ihrer Freundin und sie kann sie trotz großer Anstrengung nicht mehr aufhalten. Zu viele Tode prägen zurzeit ihr Leben und zu viele ihrer geliebten Menschen, leiden und sie leidet mit ihnen.

Beim Erzählen vergisst sie ihr Tiramisu-Stück auf dem Teller vor ihr. Ein so lebensfroher Mensch wie sie hat dieser Schock extrem getroffen. Aber nicht „nur“ die Eindrücke in Italien waren groß, auch das Verhalten einiger Menschen in ihrem Umfeld war nicht richtig und machten Margherita sehr traurig. Sie traute sich bald nicht mehr zu erwähnen, woher sie kam, weil sie Angst davor hatte, dass man sie abstoßen könne.

Normalerweise ist sie glücklich und strahlt, soziale Kontakte weiß sie zu pflegen, sie kleidet sich fröhlich und schick, mit Röcken und Mützen. Ihr kurzes, hellbraunes Haar lässt ihren Stil modisch und selbstbewusst wirken. Doch wenn sie erzählt und man den Frosch in ihrem Hals deutlich hören kann, empfindet man Mitleid, mit ihr und all den Menschen, die an diesem Virus erkrankt sind und den Menschen, die das alles miterleben.

„Viele mag es zwar (noch) nicht getroffen haben, allerdings sollte man genau deswegen froh darüber sein und alles ernster nehmen, als es uns scheint, zu sein, um genau so etwas zu vermeiden! Keine Menschen möchten gerne täglich mehrere Leichenwagen an ihren Fenstern vorbei fahren sehen und auch nicht ständig Sirenen und Kirchenglocken hören und dabei wissen, dass in jedem dieser Momente Personen im nahen Umfeld sterben!“.

Eine einfache Auslandsstudentin, weit weg von ihrer Familie, die so viel Erfahrung mit bringt und mit der Gesellschaft teilt.

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