In einer Welt, die oft von Hektik und Digitalisierung geprägt ist, finden wieder vermehrt Menschen Zuflucht in der Handarbeit. Von Großmüttern über Millennials bis hin zu Gen Z, die auf TikTok zum
Stricken aufrufen, erlebt Stricken gerade einen Hype. Es ist eine verbindende Aktivität, die Gemeinschaften schafft und individuellen Ausdruck ermöglicht.
Ich selber, nun schon seit 20 Jahren Strickerin, verbringe auch einen Großteil meiner Freizeit damit, kleine und große Werke an den Stricknadeln zu erstellen. Angefangen hab ich damit in der Grundschule, weil ich mich einfach viel besser konzentrieren konnte, wenn da was in meinen Händen war. Beigebracht wurde mir das Handarbeiten von den Frauen in meiner Familie.
Zu Beginn hab ich Finger und Stricklieseln benutzt, dabei kam nicht viel raus, außer lange Schnüre, mittlerweile stricke ich meinen 21. Pullover. Meine Großmutter, Mutter und Schwester stricken auch viel, und wir tauschen uns viel aus.
Ich spreche mit Leonie die nun auch schon seit über 15 Jahren strickt. Wir plaudern über unsere Präferenzen beim Stricken. Leonie erzählt, dass sie besonders schätzt, dass man beim Stricken so viel Entfaltungsfreiheit hat. Man kann seine Strickstücke so gestalten wie man das möchte, ihr gefällt besonders der Planungsprozess, zu dem das Muster aussuchen, Wolle aussuchen und Farben zusammenstellen gehören.
Eine Quelle der Gemeinschaft
Das Stricken ist auch eine soziale Aktivität, die Menschen zusammenbringt und Gemeinschaften bildet. Strickgruppen und -clubs treffen sich regelmäßig, um ihre Fortschritte zu teilen, Tipps auszutauschen und sich gegenseitig zu inspirieren. Auch Leonie genießt gerade den Austausch mit Anderen beim Stricken. Wenn man kreativ feststeckt, und nicht mehr so recht weiter weiß, ob einem das Projekt noch gefällt, helfen Freund*innen die auch stricken besonders gut. Gerade, wenn man anfangen möchte, sind solche Treffen eine tolle Chance. Auch in Göttingen gibt es viele Möglichkeiten sich mit anderen handarbeitenden Menschen zu treffen und gemeinsam zu arbeiten.
Mittwoch Abends findet zum Beispiel regelmäßig im Birds Café in der Nikolai Straße ein Bastelabend statt. Wer Lust hat, kommt vorbei, bringt sein Projekt mit, und kann sich dort mit Gleichgesinnten austauschen und zusammen vor sich hin werkeln.
Ich betrete mit meiner Freundin Johanna das Birds, und uns fallen direkt die ganzen Garnknäuel die überall neben den Sektgläsern auf den Tischen liegen auf. Ich frage Johanna was sie den grade strickt. “Ja genau wie du” antwortet sie. Wir stricken tatsächlich gerade dasselbe Schalmuster. Kurz entschlossen setzt sich die Cafébesitzerin zu uns, und unterhält sich mit uns über das Stricken. Sie möchte es eigentlich auch lernen, aber hat doch etwas Angst damit anzufangen. Aber gerade um damit anzufangen und diese erste Hürde zu überwinden sind solche gemeinschaftlichen Abende perfekt.
Auch das Krawall Kollektiv veranstaltet hin und wieder Bastel- und Kunstabende. Meistens Dienstags, da ist FLINTA* Tag im Krawall. Dort gibt es meistens auch Personen die einer mit allen möglichen Strickproblemen helfen können.
Ein Ritual der Entspannung
Für viele Stricker*innen ist das Stricken nicht nur eine Möglichkeit, Kleidungsstücke herzustellen, sondern auch eine Form der Meditation. Das repetitive Bewegen der Nadeln und das Zusammenspiel von Wolle und Händen haben eine beruhigende Wirkung auf den Geist. In einer hektischen Welt bietet das Stricken einen ruhigen Raum, in dem man dem Stress des Alltags entfliehen kann. Leonie sagt auch, dass sie strickt, um mal etwas mit den Händen zu machen, ihr hilft es auch bei der Konzentration.
Johanna plaudert während wir zusammen stricken darüber wie sie angefangen hat zu stricken. Während der Covid 19 Pandemie brauchte sie Beschäftigung, und hatte sich schon lange gewünscht, selber Kleidung herstellen zu können. „Es schafft eine ganz andere Wertschätzung der Kleidung der wir der tragen gegenüber. Man merkt zum ersten Mal wie viel in so einem Pulli drinsteckt; Planung, Arbeit und Material.“
Auch Leonie genießt die Arbeit mit den Nadeln “Je filigraner desto besser“. Sie teilt mir mit, dass sich ihre feinen Bambusstricknadeln mittlerweile schon an ihre Handform angepasst haben.
Eine Verbindung zur Vergangenheit
Wann genau das Stricken erfunden wurde ist nicht so ganz klar, Manche Historiker*innen sprechen von der Antike, andere erst vom Hochmittelalter. Was aber klar ist, ist das Menschen schon seit der Bronzezeit mithilfe von Nadeln Kleidung herstellen, was dann genau als Stricken zählt, ist wohl Definitionssache.
Manche der ältesten überlebenden Strickstücke stammen aus dem 11. Jahrhundert und wurden in Ägypten gefunden. Ein Vorläufer des Strickens, das “Nadelbinden” existiert schon deutlich länger, schon seit der Bronzezeit wird diese Methode angewendet. Bei dieser Technik benutzt man anstatt mehrere Nadeln nur eine. Die Technik ist besonders in Skandinavien heute noch gerne gesehen.
Durch die Jahrhunderte entstanden immer neue Strickmuster, neue Traditionen, neue Techniken. Durch bestimmte Muster werden auf Stoffen bestimmte Geschichten erzählt. In Südamerika findet man oft Alpakas auf den Pullovern, in Skandinavien sind es eher Sterne und geometrische Muster, in Osteuropa findet man viele Blumen und Blätter in den „traditionellen“ Strickpullovern.
Ein Akt der Nachhaltigkeit?
In einer Zeit, in der Nachhaltigkeit immer wichtiger wird, wirkt das Stricken auf den ersten Blick als gutes Werkzeug um den Stellenwert von Kleidung zu erhöhen. Aber Stricken ist nicht immer nachhaltig. Garne werden aus den unterschiedlichsten Materialien hergestellt, und diese sind auch unterschiedlich umweltschonend.
Der Vorteil von Materialien wie Schaf- oder Alpakawolle ist, dass diese sehr einfach ökologisch abbaubar und sehr langlebig sind. Allerdings scheiden Nutztiere auch immer Treibhausgase aus. Tierische Fasern haben oft lange Lieferwege, da viel Wolle aus Südamerika oder Neuseeland kommt. Seide wird meist in China, Japan und Indien hergestellt. Das bedeutet lange Lieferwege. Eine in der Benutzung nachhaltige Option sind auch Garne aus pflanzlichen Fasern wie Leinen, Baumwolle, Bambusfasern, etc.
Künstliche Garne aus Fasern wie Nylon oder Polyamide spalten die Strickcommunity. Da diese deutlich günstiger zu erwerben sind, machen sie das Hobby auch zugänglicher, da man so nicht so viel Geld investieren muss. Die Nachteile von mehr Plastik in der Welt kann man sich wahrscheinlich denken, grade Mikroplastik ist ein Thema, da das durch das Waschen von Kleidung aus künstlichen Fasern ins Abwasser gerät
Ich frage Johanna wie sie über die Garn Debatte nachdenkt. Sie erzählt mir, dass sie die Textur und das Gefühl beim Stricken von natürlichen Fasern einfach lieber mag. Johanna sagt auch, dass sie sich ab und zu auf Flohmärkten nach Kleidung aus hochwertigen Garnen umschaut, um diese dann aufzuribbeln, und etwas neues draus zu stricken. Eine besonders nachhaltige Methode. Auch Leonie vertraut mir an, dass sie am Liebsten recycelte Baumwolle benutzt, da die besonders weich und flauschig ist.
Johanna und ich kuscheln uns weiter in das gemütliche Sofa ein, schlürfen unsern Sekt und machen schnelle Fortschritte bei unseren Schals
Das Stricken ist für viele Menschen wieder mehr als ein Hobby geworden. Es ist eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, eine Methode sich selbst maßgenaue Kleidung selbst herzustellen. Es gibt Menschen das Gefühl von Selbstständigkeit zurück, und dient dabei auch als Flucht vor einer Welt, in der die Massenproduktion herrscht. Es mag zwar ein Trend sein, der wieder abnehmen wird, aber die Wertschätzung gegenüber Handgemachtem steigt gerade. Damit dann hoffentlich auch das Bewusstsein, dafür wie viel in so einem einfachen Kleidungsstück drinsteckt.
Ich werde jetzt meinen aktuellen Pullover weiterstricken, einen Islandpullover aus Islandwolle. Aber eher für den nächsten Winter wie es scheint.