Einmal im Jahr verändert sich das Bild eines Dorfes in Baden-Württemberg schlagartig. Dann übernehmen die Narren die Herrschaft. An Rosenmontag und Faschingsdienstag ziehen sie Fahrrädern und Masken durch die 6.000 Einwohner Gemeinde. Die Straßenfastnacht hält den Ort in Atem.
Es ist abends Anfang März. In der kleinen Gemeinde am Fuß des Schwarzwaldes ist es bereits dunkel. Ein großes Lagerfeuer bildet die einzige Lichtquelle auf dem Festplatz am Rand des Dorfes. Die Flammen des Feuers suchen sich immer wieder einen Weg in den Nachthimmel. Rauch steigt auf. Dicht gedrungen stehen kleine Menschengruppen um das Feuer zusammen. Sie starren in die Flammen, schweigen, reden, lachen. Viele tragen dicke Pelzmäntel, haben dreckige Gesichter mit schwarz umrandeten Augen. Die Fahrräder, die sie neben sich halten oder achtlos hingeschmissen haben, sind verbeult und abgenutzt. Manchmal steigt eine der Gestalten auf ihr Rad und fährt eine Runde ums Feuer. Es knirscht, klappert und scheppert. Denn dem Fahrrad fehlt der Mantel um die vordere Felge. Metall trifft Asphalt – und das ohrenbetäubend laut. Eine andere Gestalt wirft ein Holzscheit in die Flammen, reckt die Arme in die Luft, grölt triumphierend.
Es könnte sich hierbei durchaus um die Anfangsszene des neuesten Schwarzwald-Tatorts handeln, wäre nicht Faschingsdienstag und würde hier, auf dem Festplatz in Muggensturm, nicht gerade die Fastnacht verbrannt. Und die Gestalten mit den dreckigen Gesichtern und den Pelzmänteln sind auch keine Mitglieder eines Kults, die in diesem Moment ihrem Gott opfern – auch wenn es bestimmt ein paar Leute im Dorf gibt, dem es beim Anblick der Szene so vorkommt. Sie nennen sich „Alde Groß“, oder einfach nur „Alde“. Und sie sind Teil einer langen Tradition der Straßenfastnacht in Muggensturm. Jedes Jahr zu Rosenmontag und Faschingsdienstag fahren sie mit ihren Fahrrädern ohne Mantel um die vordere Felge, genannt „Rädle“, durch die 6.000 Einwohner Gemeinde; von einer Einkehr zur nächsten, von einem Bier zum anderen.
„Wie lange es das schon gibt, kann ich nicht sagen,“ erklärt Markus, der seit Jahren an Fasching zur Alde wird. „Die sind schon rumgefahren, als meine Oma noch ein Kind war. Und die wäre jetzt 94 Jahre alt.“ Auch sein Vater ist bereits mitgefahren. Und jetzt eben er. Mit ungefähr zehn Jahren haben er und einige Freunde beschlossen, sich als Alde zu verkleiden. Wichtigstes Utensil: die Gummimaske. „Das sind die Vierzahnteufel oder Einzahnhexen-Masken. Das ist Standard in Muggensturm. Die Älteren haben die noch von früher. Jetzt gibt es die wieder. Irgendwo im Osten hat einer eine Fabrik aufgetan.“ Zwar könne sich jeder so eine Maske kaufen. Der wichtigste Kunde der Manufaktur, da ist Markus sich sicher, ist aber Muggensturm. Die Maske haben sie eigentlich die ganze Zeit auf, wenn sie unterwegs sind. Erst am Dienstagabend, am Feuer, ziehen sie sie ab.
In diesem Jahr ist es ungemütlich. Es ist sehr windig und regnet immer wieder. Trotzdem brennt das Feuer. Dafür sorgen die vielen Tannenbäume, die – extra von Weihnachten aufgehoben – hier ihr Ende finden. Es knistert und knackt. Der Geruch von Rauch vermischt sich mit dem des Regens. Darunter ist aber noch ein anderer Geruch auszumachen, wenn man sich zu nah an die Alde herantraut, die um das Feuer stehen: eine Mischung aus Schweiß, Alkohol und alten müffelnden Klamotten, die eher als Gestank bezeichnet werden sollte. Aber das gehört dazu, findet Markus: „Als Alde muss man ja schon manchmal ein bisschen ekelhaft sein. Es gibt Leute, die ziehen sich zum Faschingsende aus, machen das alles in einen Sack und ziehen das im nächsten Jahr wieder an. Meins lüftet immer noch eine Woche im Keller, damit es nicht ganz so mieft. Es gibt aber auch den ein oder anderen, der schon mal eine Frikadelle vom letzten Jahr in der Jackentasche gefunden hat.“
Ungefähr eine halbe Stunde braucht er jedes Mal zum Anziehen. Denn das Kostüm ist aufwendig. Neben der Maske, im Brauchtum „Larve“ genannt, gehört auch ein Pelzmantel, ein Büstenhalter, etwas Unterhosenartiges, Strumpfhosen und eine Haube dazu. Wie viele Schichten an Kleidung es zusätzlich noch werden, kommt immer aufs Wetter an. Wichtig sind natürlich auch die schwarz umrandeten Augen, damit die unter der Maske nicht hervorstechen. Alles möglichst dunkel. Und möglichst gut gepolstert. Denn es kann schnell passieren, dass man stürzt. „Ich habe mir einmal zwei Zähne ausgeschlagen, weil sich die Felge im Kopfsteinpflaster verhakt hat,“ erzählt Markus. Einer seiner Freunde habe sich auch schon das Radiusköpfchen am Ellenbogen gebrochen. Auch Leute mit gebrochenem Schlüsselbein gab es schon. Oder welche, die sich den Kopf aufgeschlagen haben. Markus tut das mit einem Schulterzucken ab. Das gehört dazu, dass man fällt.
Auch, dass die Vorderfelge immer wieder kaputt geht, ist normal. Die muss dann eben ausgetauscht werden. Doch werden Felgen immer mehr Mangelware. „Achter im Rad sind sowieso ein Standardproblem,“ so Markus. Ihre Fahrräder finden die Alde oft beim Sperrmüll. Es kann aber durchaus schwierig werden, das Richtige zu finden, denn das neue Gefährt muss zwei Kriterien erfüllen: Es muss ein Damenrad sein und Rücktritt haben. Damenrad zum schnellen absteigen, oder eher -springen auch in voller Fahrt, und Rücktritt für besseres Bremsen – logisch. Deswegen schauen viele, dass sie ihr Rad so lange wie möglich erhalten, erklärt Markus. Sein Rädle hat er von seiner Oma. Seit über zehn Jahren ist es jetzt in seinem Besitz. Das Jahr über steht es im Keller. Nur für die zwei Tage an Fasching wird es rausgeholt. Bis jetzt hat es überlebt, auch wenn es ein bisschen zu klein ist.
Die Alde sind charakteristisch für Fastnacht in Muggensturm. Das Kratzen und Scheppern der Felgen auf dem Asphalt bilden den Grundton dieser Tage. Die Gruppen, die durchs Dorf fahren, sind schon von Weitem zu hören. Mit wehenden Mänteln fahren sie dicht an Fußgänger und Schaulustige heran, grölen und brüllen unter ihren Masken hervor, bevor sie sich wieder ihren Gruppen anschließen und weiterfahren. In dunklen Pulks ziehen sie durchs Dorf. Immer begleitet von dem Geräusch von Felge auf Asphalt. Manche haben auch Konfetti oder Rasierschaum dabei, die großzügig verteilt werden. Besonders die Hauptstraße ist an diesen Tagen an einigen Stellen bedeckt mit Papierschnipseln, Federn und den Tannenbäumen, die irgendwann im Feuer auf dem Festplatz landen. Manchmal findet auch eine alte Matratze ihren Weg auf die Straße, für AutofahrerInnen nicht gerade die angenehmste Zeit. Auch weil sie gerne mal angehalten werden und von ihnen Wegepfand verlangt wird. Eine Fahrt durchs Dorf kann schon mal einiges Gehupe kosten.
Die Gemeinde stellt deswegen Schilder mit der Aufschrift „Achtung Autofahrer, Faschingstreiben!“ an den fünf Ortseingängen auf. Und es wird eine Umleitung eingerichtet, die den Verkehr vor allem von der Hauptstraße und den Straßen im Ortskern wegleiten soll. Das übernimmt das zuständige Landratsamt in Rastatt. Die Schilder aufzustellen ist aber Aufgabe des Bauhofes in Muggensturm und kann schon einige Stunden in Anspruch nehmen, erklärt Claus Gerstner, Hauptamtsleiter der Gemeinde Muggensturm und zuständig für die Abteilung Sicherheit und Ordnung. Außerdem schaltet die Gemeinde eine Woche vorher eine Anzeige im Gemeindeanzeiger. Dort wird auf die Umleitung hingewiesen und auch darauf, dass Straftaten jeglicher Art angezeigt werden. Man wolle für diese Tradition sensibilisieren, meint Gerstner. „Das Ganze fällt unter die Brauchtumspflege. Da ist es zwar keine Pflicht, dass das erlaubt wird. Aber die Gemeinde stellt sich da auch nicht quer. So lange das einigermaßen geregelt abläuft, hat keiner was dagegen.“ Die Gemeinde dürfe dort sowieso nicht eingreifen. Das fällt in die Zuständigkeit der Polizei. Auch wenn die an den beiden Tagen nicht so genau hinschaut.
Sie zeigt Präsenz, besonders an einer Stelle der Hauptstraße, wo sich das meiste Faschingstreiben bündelt. Hier als Autofahrer*in durchzukommen ist meist fast nicht möglich. Die Straße ist unter den Papierschnipseln, Konfetti, Federn und den Tannenbäumen eher zu erahnen als zu sehen. Und zwischendrin fahren die Alde krachend Slalom um die Tannenbäume. Da kommt es schon mal vor, dass eine ihr Fahrrad plötzlich in voller Fahrt fallen lässt und auf eine Gruppe Mädchen zu stürmt, die kreischend auseinanderrennen. Eine andere maskierte Person ist währenddessen weiter hinten über einen Tannenbaum gefahren und hingefallen. Es kracht. Aber niemand scheint davon Notiz zu nehmen. Ein anderer Rädlebesitzer stürzt sich auf sie. Zusammen rollen sie sich über den Boden. Immer unter den Augen der Polizei, die mit einem Streifenwagen vor Ort ist. Das wird an den Fastnachtstagen in Muggensturm mittlerweile als normal angesehen. Noch vor einigen Jahren wurden hier mitten auf der Straße immer wieder Reifen angezündet und kleine Feuer gemacht. Was die Lage so prekär macht: als Feuerstelle hatten sich die Närrinnen und Narren gerade den Straßenabschnitt vor der örtlichen Tankstelle ausgesucht.
Also kein Wunder, dass an dieser Stelle noch heute besonders aufgepasst wird. Auch wenn dort keine Feuer mehr gemacht werden und auch die Straftaten, die angezeigt werden, sich in Grenzen halten. Dieses Jahr waren es nur ein paar, erzählt Gerstner. Nach seiner Auffassung ist die Straßenfastnacht in Muggensturm nicht mehr so extrem. Das findet auch Markus. Von seinem Vater kennt er noch Geschichten, dass nicht nur Feuer gemacht, sondern auch mit den Rädle durch die Flammen hindurch gefahren wurde. Das war vor 50 Jahren. Zwar werden auch heute noch einige Straßen verunreinigt. Aber das gehöre auch irgendwie dazu, findet Markus. „Als Jüngere sind wir auch mit Rasierschaudosen und so los – ich jetzt weniger, weil meine Mutter gesagt hat: ‚So eine Sauerei machst du nicht!‘ Ich hatte dann Konfetti oder so was. Aber da kannst du schon Scheiße treiben.“
Als Jugendliche hätten sie auch noch Autos angehalten. Auch wenn er das noch nie besonders lustig fand. Je älter man wird, desto mehr verschieben sich aber die Prioritäten, wie Markus meint: „Wenn du ein gewisses Alter hast, geht es eigentlich nur noch darum: du fährst von Station zu Station, sitzt zusammen und hast Spaß.“ Absichtlich etwas kaputt machen würde man nicht. Dass die Gesichter durch die Masken verhüllt sind, sei schon ein gewisser Reiz, überhaupt mitzufahren. Als Einladung für Straftaten sieht er das aber nicht. „Untereinander erkennt man sich sowieso, weil man weiß wie die anderen angezogen sind. Es gibt auch Gruppen, die die gleiche Haube aufhaben oder eine Binde am Arm. Mich würde man auch sofort erkennen, weil ich als einziger diese eine Maske habe, die ist relativ schwarz. Und einen grünen Mantel mit einem Wollsaupelz auf dem Rücken.“ Alle habe etwas, an dem man ihn oder sie erkennen würde. Heute würde sich aber auch niemand mehr trauen, an der Tankstelle die Fastnacht zu verbrennen. Nicht nur, weil die Polizei direkt vor Ort ist.
Wichtig zu erwähnen ist ihm aber, dass jede*r auf eigene Verantwortung fährt. Das betont auch Gerstner. Es stehen kein Verein oder andere*r Verantwortliche*r hinter dem Faschingstreiben. Niemand muss sich anmelden. Deswegen kann auch nicht gesagt werden, wie viele Leute genau mitfahren. Markus schätzt die Zahl auf 100 bis 150 Personen. Auch wenn ihm das sehr schwerfällt. Denn die Zahl variiert von Jahr zu Jahr. Und auch an den beiden Tagen kann sich die Zahl der maskierten Rädlefahrer*innen unterscheiden.
Zu beobachten ist aber, dass im Vergleich zu früher immer weniger Alde mitfahren. Für Markus hat das vor allem zwei Gründe. Zum einen sind viele gebürtige Muggensturmer*innen mittlerweile weggezogen und die Zugezogenen können mit der Tradition meist nichts anfangen. Zum anderen müssen viele über die Faschingstage arbeiten und kriegen keinen Urlaub mehr, wie das früher zum Teil noch der Fall war. Das sieht er auch an seiner Gruppe: „Normalerweise sind wir sieben Leute. Zwei haben dieses Jahr keinen Urlaub gekriegt und einer macht eine Weiterbildung und ist deswegen in der Schule. Wenn das in jeder Gruppe so ist, ist es ja klar, dass das immer weniger machen.“ Und dann ist auch das Wetter dieses Jahr nicht so gut. Besonders der Wind macht das Vorwärtskommen schwierig. Denn Fahren ist auch so schon anstrengend genug, bei einem Fahrrad ohne richtiges Vorderrad.
Wenn sie nicht durch die Straßen fahren, sind sie vor den Kneipen, in den Garagen, Einfahrten und Höfen zu treffen. Dort stehen, liegen und sitzen die in Pelz und alte Klamotten gehüllten Alde. Die Masken sind vom Gesicht gezogen. Mit ihnen würde es sich schließlich schlecht Essen und vor allem Trinken lassen. Neben ihnen und um sie rum liegen die Rädle. Dort liegen gelassen, wo ihre BesitzerInnen abgestiegen sind. Manchmal läuft Musik. Es wird viel geredet, gelacht, gegrölt; fröhliches Beisammensitzen mit besonderem Dresscode könnte man es nennen oder auch „Feez“ – man hat zusammen Spaß. Nach einiger Zeit geht es weiter. Also alle wieder Masken auf, rauf auf die Räder und weiter zum nächsten Hof, zur nächsten Garage oder Einfahrt, wo es etwas zu trinken gibt. Mit dem kratzenden und scheppernden Geräusch des Vorderreifens, viel Gegröle und manchmal auch ein bis zwei Stürzen unterwegs.
Lisa wohnt neben einer dieser Einfahrten, die über die Faschingstage zum beliebten Treffpunkt werden. Anders als viele im Dorf hat sie mit Fasching nicht wirklich etwas zu tun, kann damit nichts anfangen. An den beiden Tagen vermeidet sie es rauszugehen. Vor allem mit dem Auto fährt sie nicht. Zu groß ist die Angst, dass etwas kaputt gehen könnte, dass ihr Auto zerkratzt wird. Da treffe es sich gut, dass sie über Fasching frei habe und sowieso nicht arbeiten müsse, wie sie erzählt. Die angehende Erzieherin schaut zwar schon gerne zu, was da so bei ihren Nachbarn los ist. Dazu geht sie auch mal vor die Tür. Aber am liebsten betrachtet sie das Ganze aus sicherer Entfernung, durch ihre Fensterscheibe geschützt.
Gut findet sie es trotzdem: „Man sollte die Tradition weiterleben und nicht aussterben lassen, was da über Generationen weitergetragen wurde. Bei meinen einen Nachbarn kommen immer die Enkel zu Besuch und fahren dann auch mit, wie das schon ihr Vater gemacht hat. Das finde ich schön.“ Überhaupt macht ihr die Straßenfastnacht nichts aus. Im Gegenteil: sie gönnt den anderen den Spaß. Sie schaut nur lieber zu; aus sicherer Entfernung.
So sehen das die meisten im Ort, die nicht selbst als Alde mitfahren oder ihren Hof öffnen. Viele gehen auf die Straße, um dem Treiben zuzuschauen. Einige sind auch dienstags am Lagerfeuer anzutreffen. Zwar gebe es immer ein paar Beschwerden, wie Gerstner betont. Die würden sich aber in Grenzen halten. Es sei nun einmal so, dass in Muggensturm zwei Tage lang Närrinnen und Narren auf Fahrrädern unterwegs sind. Auch in den umliegenden Dörfern ist das bekannt. Zwei Tage lang befindet sich die Gemeinde im Ausnahmezustand. Am Faschingsdienstag endet dann alles bei der Fastnachtsverbrennung auf dem Festplatz. Auch Markus schaut kurz vorbei, obwohl seine Gruppe es nicht jedes Jahr schafft. Das kommt immer darauf an, wo sie gerade im Dorf unterwegs sind. Dieses Jahr hat es aber geklappt. Ab 18 Uhr brennt das Feuer. Und ab dem Zeitpunkt ziehen alle ihre Masken ab. Dann ist die Straßenfastnacht offiziell beendet. Auch wenn der Abend danach noch in den Kneipen ausklingt.
Und während auf dem Festplatz das Feuer brennt und sich der Rauch in den Nachthimmel erhebt, sind die Bauhofmitarbeiter*innen schon damit beschäftigt, die Spuren der vorigen Tage zu beseitigen; mit Kehrmaschine gegen den Schmutz auf den Straßen. Spätestens am Mittwochvormittag läuft dann alles wieder in geregelten Bahnen. Nur die Schilder an den Ortseingängen und die Reste des Lagerfeuers auf dem Festplatz zeugen davon, dass die letzten Tage doch nicht ganz normal waren.