Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg und andere junge Aktivist*innen sind momentan in aller Munde. Junge Leute engagieren sich endlich wieder, sagen manche. Doch was politisches Engagement auf lokaler Ebene in kleinem Kreis für den Alltag eines Studenten bedeutet und wie herausfordernd es sein kann, zeigt sich am Beispiel des Amnesty International Hochschulgruppensprechers Gabriel Walter.
Das leise Rascheln des Zigarettenpapiers, deren Seiten aneinander reiben, überspielt die Gesprächspause in der kleinen WG-Küche im Göttinger Stadtteil Weende. Gabriel Walter leckt vorsichtig eine Seite des Papiers an, bevor er mit einer gekonnten Drehbewegung sein Werk vollendet. Das Feuerzeug ratscht und seine Flamme entzündet den Glimmstängel. Nach dem ersten Zug dreht sich Walter in Richtung des weit geöffneten Küchenfensters, bläst den Rauch in die freie Luft und grinst breit. „Ich hoffe, meine Mitbewohnerin bekommt davon nichts mit. Eigentlich rauchen wir nicht in der Küche.“
Ein seelenruhiger Abend wie dieser war nicht zu erwarten. Schließlich ist Gabriel Walter ein gefragter Mann. Der 25-Jährige Student ist vor wenigen Wochen zum Gruppensprecher der Hochschulgruppe der Menschenrechtsorganisation Amnesty International an der Göttinger Universität gewählt worden. Das bedeutet neben viel Verantwortung natürlich auch viel Arbeit. Gruppensprecher*innen müssen Mails beantworten, mit allen Arbeitskreisen in Kontakt stehen und die Gruppe nach Außen repräsentieren. Unter den vielen Aufgaben können andere Aspekte des studentischen Alltags zu kurz kommen, allen voran die Aufgaben an der Uni selbst. „Natürlich leidet da Einiges drunter. Vor allem der Schlaf. Aber einen Fehler würde ich das nicht nennen“, sagt Gabriel Walter mit sanfter und ruhiger Stimme, die seine Worte aber dennoch bestimmt wirken lassen. „Vor allem in der Vorlesungszeit habe ich oft acht bis zehn Stunden pro Tag nur Sachen für Amnesty gemacht. Das ist echt hart. Aber irgendwie geht das schon.“ Dieses ausufernde Engagement hat allerdings weniger mit Walters Rolle des Gruppensprechers zu tun als viel mehr mit seiner persönlichen Begeisterungsfähigkeit. Er könne schlecht Nein sagen, wenn sich jemand nach seiner Beteiligung an einem Projekt oder an einer Idee frage. So entstehe ein aus allen Nähten platzender Terminkalender.
Viele junge Menschen engagieren sich neben der Schule, der Uni oder dem Job für soziale Organisationen und Bewegungen. Nicht nur die weltweiten Proteste von Schüler*innen und Studierenden unter dem Motto #FridaysForFuture beweisen dies seit einigen Wochen. Auch medial weniger wirksame Projekte tragen etwas zur Gesellschaft bei. Eine Studie der Verbrauchs- und Medienanalyse (VuMA) ergab, dass sich knapp zehn Prozent aller Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ehrenamtlich engagieren, Tendenz steigend. Dazu zählen neben Tätigkeiten in Sportvereinen, kirchlichen Einrichtungen und Gewerkschaften auch das politische Engagement, das in den gesellschaftlich und politisch aufreibenden Zeiten des 21. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt. Große Themen wie die Folgen der Globalisierung und des Klimawandels, wie die Bedrohung durch „alternative Fakten“, autoritäre Herrscher*innen und Menschenrechtsverletzungen werden in den kommenden Dekaden gesellschaftlich zu diskutieren und bewältigen sein. Eine große Zahl engagierter junger Menschen, die sich selbst um ihre Zukunft kümmern wollen, versucht diesem etwas entgegenzusetzen.
„Wenn wir die Menschenrechte als Basis haben, von der jeder Mensch starten kann“, sagt Walter, „dann haben wir alle die Möglichkeit, ein Leben zu führen wie wir es uns für uns selbst vorstellen.“ Mittlerweile ist auch die Balkontür geöffnet, die zusammen mit dem geöffneten Fenster einen Durchzug erzeugt. Der Wind pustet die kalte Märzluft unangenehm durch die Küche. Gabriel Walter nimmt einen großen Schluck Bier und stellt die Flasche sanft wieder auf den Tisch. „Soziales Engagement ist ja jetzt nicht komplett selbstlos. Man zieht da auch selbst viel draus“, sagt er und verweist darauf, dass mindestens drei Viertel seiner Freund*innen in Göttingen Teil der Amnesty Hochschulgruppe sind. Soziales Engagement verbindet Menschen. Wenn man sich mehrmals pro Woche mit den gleichen Menschen trifft, mit denen man sich das gleiche Interesse teilt und zusammen Vortragsreihen, Demonstrationen oder Kampagnen organisiert, ist es selbstverständlich, dass man sich mit einigen davon auch anfreundet. Aber durch soziales Engagement entstehen nicht nur neue Freundschaften. Walter erkennt auch an, dass er oftmals Perspektivwechsel vollzieht, obwohl er schon feste Vorstellungen von Projekten hat. „Dann kommen aber andere Leute dazu und haben ganz andere Vorstellungen, die ich vorher nicht gesehen habe. Das ist absolut bereichernd.“
Auf der ständigen Suche nach Halt in einer Welt voller Wandlungen
Klirrendes Geschirr, laute Gespräche und der intensive Geruch von Kaffee erfüllen die Luft, während Studierende eilig hin und her laufen. Die Mittagspause im Café Zentral auf dem Uni-Campus ist kurz und intensiv, denn die meisten Studierenden wollen schnell an ihren Hausarbeiten, Essays oder Lernzetteln weiterarbeiten. Walter läuft hektisch den Gang hinunter. „Warum musst du auch immer pünktlich sein?“, sagt er schmunzelnd in meine Richtung. Wir gehen die Treppen des Cafés hinunter. Walter kauft sich einen Kaffee und besteht darauf, auch meinen Tee zu übernehmen. Nachdem wir zwei Minuten nach freien Plätzen im Café gesucht haben, entscheiden wir uns, nach draußen zu gehen. Er wolle sowieso gerne noch rauchen. „Das ist bestimmt auch schon mein fünfter Kaffee heute. Ich bin schon seit halb drei heute Morgen wach“, sagt der Geschichts- und Politikwissenschaftsstudent als er vorsichtig den ersten Schluck seines Getränkes schlürft. „Aber wie geht‘s dir denn eigentlich so?“
Der Lebenslauf von Gabriel Walter liest sich wie ein Musterblatt des engagierten, begeisterungsfähigen aber auch unschlüssigen Studierenden. Abitur, ein Jahr lang gekellnert, Freiwilligendienst in Uganda, Studium in Bamberg angefangen, gemerkt, dass Bayern nichts für ihn ist, dann über einen Kumpel in Göttingen gelandet. Ein Leben voller Tatendrang, geprägt von Orientierungslosigkeit und Unentschlossenheit. Vielleicht rührt dies daher, dass der gebürtige Rheinland-Pfälzer sich und sein Handeln ständig selbst kritisch hinterfragt. Über seinen Freiwilligendienst in Uganda sagt er: „So im Nachhinein ging das echt in die Richtung „weißer, privilegierter Junge geht nach Afrika und zeigt den Leuten wie es richtig geht“. Ich hab‘ versucht, die Sachen zu suchen, die die Bilder von dem, was Uganda und Afrika für mich war, bestätigen und ich hab‘ dabei alles andere ausgeblendet. Wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Und „Wahrheit“ ist auch so ‘ne Sache.“ Diese Unsicherheit darüber, was Wahrheit, was Vorstellung ist und wie Menschen ihre Erwartungen durch äußere Einflüsse bestimmen lassen, begleitet Walter seit jeher und führt ihn manchmal in eine gewisse Befangenheit und Zurückhaltung.
Das kann einen Menschen sehr belasten. So ist es nicht verwunderlich, dass Walter nach seiner Ankunft in Deutschland, wie viele Rückkehrer*innen aus Ländern des Globalen Südens, in ein mentales Loch fiel, weil er nicht mehr wusste, wer er selbst ist und wer er eigentlich sein will. Wenn man sich dann noch Hals über Kopf trotz Identitätskrise in eine Beziehung stürzt und alles in diese investiert, ist es umso niederschmetternder, wenn besagte Beziehung zugrunde geht und man mit leeren Händen und leerer Identität dasteht. Da braucht es Menschen, die einen auffangen. „Mein Mitbewohner hat mir da echt raus geholfen. Ich bin dann mit ihm ein paar Mal zum Amnesty Plenum gegangen. Und vielleicht ist Amnesty dadurch für mich so ein Stück weit meine Ersatzfamilie geworden“, sagt der junge Mann, während er vorsichtig in seinen Kaffee pustet.
Generell scheint Walter beeinflussbar zu sein. Er sagt, er sei mehr oder weniger von Leuten in die Rolle des Gruppenleiters gedrängt worden. Eigentlich wollte er das gar nicht machen, aber die Überzeugungskraft anderer hätte ihn weich gekocht. Kein Fehler, wie er sagt, aber auf jeden Fall zusätzliche Belastung. Dabei kann er selbst ganz schön überzeugend sein. „Amnesty ist definitiv präsent in der WG“, sagt Judith Wessendorf, Mitbewohnerin von Gabriel Walter, der von seinen Freund*innen Gabsi genannt wird. „Und Gabsi und Christoph versuchen auf jeden Fall uns Mitbewohnern Amnesty schmackhaft zu machen.“ Die Jura-Studentin wohnt erst seit wenigen Monaten in der Wohngemeinschaft und engagiert sich momentan nicht bei Amnesty International, wobei sie das für die Zukunft nicht ausschließen möchte. Vermutlich auch auf Einwirken Walters. Sie engagiere sich zur Zeit bei der Göttinger Refugee Law Clinic, die unter anderem Geflüchtete rechtlich bei Asylverfahren unterstützt, und hätte deshalb keine zusätzliche Zeit für ein Engagement bei Amnesty International. Sie kannte Walter vor ihrem Einzug nicht. „Ich habe mich sofort zuhause gefühlt! Gabsi ist ein aktiver Teil in der WG. Er kocht oft für andere mit und ist super zuvorkommend. Er kümmert sich auch um seine Mitbewohner, wenn mal jemand krank ist.“ Doch es sei nicht von der Hand zu weisen, dass er sich manchmal zu viel vornehme. „Ich glaube, er vergisst sich manchmal selbst“, sagt Wessendorf und revidiert sofort: „Aber er nimmt sich einfach gerne Zeit für Menschen. Klar, manchmal verquatscht man sich dann, aber er würde nie sagen, er müsse jetzt los, weil er noch zu tun hat.“
Ein wenig anders sieht das Christoph Schuch. Der dritte Mitbewohner im Bunde findet nicht, dass sich Walter in seinem Engagement übernimmt. „Wenn man so stark engagiert ist, kann es natürlich auch passieren, dass das Privatleben für den Moment so ein bisschen vernachlässigt wird“, sagt Schuch. „Aber mein Eindruck von Gabsi ist, dass er in Momenten, in denen es zu viel wird, auch den Schritt zurück macht und am richtigen Punkt merkt, dass es zu viel ist und er sich dann zurückzieht.“ Natürlich sei die Arbeit bei Amnesty International ein Teil des WG-Lebens und er würde mit Walter auch viel darüber reden. „Aber ich würde nicht sagen, dass wir nur noch über Amnesty reden. Wir sprechen genauso gerne über Politik, Studium, Sport, Fußball, gesellschaftliche Probleme, die wir sehen. Und ab und zu gibt es dann Querverweise zu Amnesty, aber man kann mit Gabsi auch gut eine Amnesty-freie Zeit haben.“
Weshalb sollte man sich überhaupt für Menschenrechte engagieren?
Das Uni-Café leert sich langsam. Durch die vorlesungsfreie Zeit hat es nur zu verkürzten Öffnungszeiten geöffnet, was Missmut bei einigen Studierenden erzeugt, die sich auf ihre entspannende Kaffeepause gefreut haben. Gabriel Walter steht auf und schleicht langsam in Richtung Ausgang des Cafés. Warum er sich als sehr privilegierter Mensch für die Rechte Anderer einsetze? „Ich habe mich in Deutschland nie in meiner persönlichen Entfaltung eingeschränkt gefühlt“, gibt Walter als heterosexueller, weißer, in Deutschland geborener Mann zu. „Aber man kommt beim Engagement auch mit vielen Menschen in Kontakt, die sich aufgrund ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Identität oder ihres Geschlechts in politischen Gefügen nicht so entfalten können wie ich das kann.“ Jeder könne und müsse sich für andere Menschen und ihre Rechte einsetzen. Dies nicht zu tun, grenze fast an unterlassene Hilfeleistung, mindestens an Ignoranz. Walter betont allerdings auch, dass man an gewissen Punkten zurücktreten muss und seine eigene Dominanz zurücknehmen sollte, um diskriminierten und benachteiligten Menschen nicht den Raum zu nehmen, der ihnen gebühre.
Auf Gegenwind weiß Gabriel Walter gut zu reagieren. Von Vorwürfen der Doppelmoral, wie sie etwa kürzlich die #FridaysForFuture-Aktivistin Luisa Neubauer trafen, weil sie sich für den Klimaschutz einsetzt, aber dennoch in den vergangenen Jahren viele Flugreisen unternommen hat, hält Gabriel Walter wenig. Der Groll politischer Herausforder*innen beruhe auf dem einfachen Prinzip, sich durch Diskreditierung anderer selbst zu schützen und seine eigenen Überzeugungen nicht in Frage zu stellen. „Indem man andere Leute abwertet, wertet man sich selbst auch irgendwie auf. Aber die wenigsten Sachen, die Leute sagen, machen und tun sind wirklich böse gemeint. Das Meiste ist Ignoranz, fehlendes Einfühlungsvermögen oder Egozentrik. Es geht mehr darum, sich selbst was Gutes zu tun als Anderen was Böses“, zeigt sich Walter verständnisvoll. „Wenn man Leute hat, mit denen man nicht einer Meinung ist, muss man versuchen, zu gucken: Woher kommt das? Warum ist diese Person so eingestellt? Warum bin ich so eingestellt? Und wie kann man gemeinsam in die gleiche Richtung gehen und sich gegenseitig bereichern?“, sagt Gabriel Walter wild gestikulierend. „Und deshalb funktioniert Aktivismus auch in kleinem Kreis. Es ist wichtig, dass man Informationen in den eigenen Freundes- und Familienkreis trägt und sich auch selbst sensibilisiert. Und wenn es nur 20 Leute beim Vortrag sind, sind es immerhin 20 Leute.“
Mittlerweile ist der Abend in der WG-Küche zur Nacht geworden. Der Rotwein und das Bier sind leer. Walter gähnt ein Mal laut und hält sich dabei den Handrücken vor den Mund. „Ich muss jetzt auch langsam weiter an meiner Hausarbeit arbeiten. Ich hab‘ nur noch vier Wochen Zeit für zwei Hausarbeiten und zwei Essays. Ach ja, und eine Klausur schreibe ich auch noch“, sagt Walter als wäre es ganz selbstverständlich so viele Aufgaben bis ins Unermessliche aufzuschieben, um sich dann durch endlose Nachtschichten zu quälen. Für die Zukunft könne er sich schon vorstellen, weiter sozial und politisch engagiert zu bleiben, allerdings nicht in diesem Umfang. Er hoffe, dass sich später Beruf und Engagement gut vereinen ließen. „Im Grunde möchte ich mit meinem Engagement Leute erreichen und dadurch Menschen helfen. So einfach ist das.“ Ob diese Erwartung, dass man die Welt mit jedem noch so kleinsten sozialen Akt verändern kann, nicht auch nur eine Vorstellung ist, die auf äußeren Einflüssen beruht, bleibt heute Abend unbeantwortet.