Als ich an der Haustür der Ignatows klingele, bin ich ein wenig aufgeregt. Ich habe Dimitri nun eine längere Zeit nicht gesehen und frage mich deshalb, wie das Gespräch verlaufen wird. Die Anspannung verfliegt aber schon in dem Moment, als mir die Tür geöffnet wird. Dimitri begrüßt mich herzlich, bittet mich hinein und bietet mir ein Getränk an. Ich unterhalte mich kurz mit ihm und seiner Mutter, bevor wir ins Wohnzimmer gehen und sofort ins Gespräch kommen, als würden wir uns jede Woche austauschen. Ich vergesse in dieser entspannten Atmosphäre beinahe, dass Audioaufnahmegerät einzuschalten. Klar, wir kennen uns auch schon seit der Jugend, aber die lockere und offene Art, die Dimitri bei vielen Menschen so beliebt macht, ist besonders.

Familie steht an oberster Stelle

Dimitri ist übrigens 22 Jahre alt und Handballprofi. 2018 gab er mit gerade einmal 19 Jahren sein Debüt in der deutschen Handball-Bundesliga, der sogenannten „besten Liga der Welt“. Heute ist er ein gestandener Bundesligaspieler in Essen und steht im erweiterten Olympiakader der deutschen Nationalmannschaft. Ich treffe ihn aber in Fuldabrück, einem kleinen, ruhigen Ort in der Nähe von Kassel. In einem einfachen Reihenhaus wohnen seine Eltern, die mit ihm und seinem älteren Bruder 2005 aus Kasachstan nach Deutschland gekommen sind. Die Anfangszeit sei zwar schwierig gewesen, besonders aufgrund der Sprachbarrieren, aber für Dimitri ist und bleibt Fuldabrück trotzdem seine Heimat: „Mein Ziel ist es, dass ich wieder hier wohnen kann. Hier sind Freunde, Familie und ich bin ja hier groß geworden.“

Dimitri auf einem Kinderturnier im Trikot der TSG Dittershausen, seinem ersten Jugendverein. (Foto: Dimitri Ignatow)

Dimitri weiß, dass er den Weg in den Profisport nicht allein geschafft hätte. Immer wieder betont er, wie wichtig Umfeld und Familie gewesen sind. Auch heute noch sind seine Eltern für ihn wichtige Bezugspersonen. Während unserem Gespräch holt Dimitri sogar seine Mutter dazu, damit sie sich zu Themen äußern kann. Ihm geht es besonders darum, wieviel Zeit und Aufwand seine Eltern aufbringen mussten. Sehr dankbar und respektvoll betont er: „Ich musste zwar viel aufgeben für den Handball, aber meine Eltern haben auch so viel Zeit und Arbeit investiert. Ohne sie wäre ich kein Handballprofi geworden.“ Er berichtet, dass sein Vater ihn teilweise nach der Arbeit noch stundenlang begleitet und gefahren hat, damit Dimitri bei allen Trainingseinheiten erscheinen konnte. Sie seien es auch gewesen, die ihn beim Handball gehalten hätten. Er wollte aufhören, hatte heimlich Fußball gespielt. Mit viel Humor erläutert er die damalige Situation mit seiner Mutter. Dimitri ist ein wirklicher Familienmensch. Er beschreibt ausführlich, wie er früher bei jedem Spiel seine Eltern im Publikum suchte, ihr Vertrauen und die Nähe brauchte. Seine Mutter bestätigt im Gespräch, dass dies schon seit der Kindheit so sei. Momentan wohnt Dimitri in einer kleineren Wohnung in Essen, die er von einem ehemaligen Spieler übernommen hat. Besonders das Essen von seiner Mutter fehle ihm. Für die Zukunft plane er auch, mit seiner Freundin zusammenzuziehen. Dabei würde er sich sogar nach ihrem Standort richten, sich dort einem Verein anschließen wollen. Dimitri betont auch: „Am wichtigsten sind mir meine Familie, meine Freundin und deren Gesundheit. Das ist mir wichtiger als der Handball.“ Diese Sicherheit, die er sich über sein enges Umfeld holen kann, scheint für ihn unabdingbar.

Über Sicherheiten und Risiken

Zu seinem Sport ist Dimitri über einen Freund gekommen, der ihn in der Grundschule in eine Ballsport-AG mitgenommen hat. Anschließend hat Dimitri den perfekten Karriereweg durchlaufen. Er hat von Beginn an eine optimale Vereinsförderung bekommen und in den höchsten Jugendligen gespielt. Dazu hat er von der Bezirksauswahl bis zur Jugend-Nationalmannschaft alle Fördergruppen besucht. Schule habe nicht die oberste Priorität gehabt, er sei kein guter Schüler gewesen. Heute hat er allerdings das Fachabitur nachgemacht, nachdem er zunächst einen Hauptschulabschluss hatte.

Dimitri im Trikot der mJSG Melsungen/Körle/Guxhagen. (Foto: Nadine Rohdler)

Dimitri scheint sich generell mehr Gedanken zu machen, als er zugeben möchte. Obwohl er immer wieder betont, dass er nicht allzu gerne in die Zukunft schaut, ist er sich über den Werdegang eines Handballers im Klaren. Sie verdienen nicht das ganz große Geld, Millionenverträge wie im Fußball gibt es nicht. Daher sind auch die jungen Spieler gezwungen, sich neben der Karriere ein zweites Standbein aufzubauen. Dimitri macht deshalb eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann. Dass sich dabei Schwierigkeiten mit dem vollen Terminkalender eines Profis ergeben, beschreibt Dimitri ausgiebig. Zweimal am Tag habe er Training, anschließend müsse er noch arbeiten. Manchmal käme er erst nachts heim und fiele erledigt ins Bett. Eine Vollzeitausbildung ist logischerweise nicht möglich, er arbeitet eigentlich nie mehr als ein paar Stunden am Tag. Er plant auch ein Studium, dass er neben seiner Karriere machen möchte, denkt über Investitionen und Anlagen nach. Für den Fall einer schwerwiegenden Verletzung ist er mit allen Versicherungen versehen. Im Gespräch wird deutlich, dass Dimitri nicht einfach nur Handball spielt. Er denkt über sich und seine Zukunft nach, versucht auch außerhalb des Sports informiert und involviert zu sein.

So reflektiert war Dimitri aber als unerfahrener Profi nicht. Der Grund, warum er heute in Essen spielt, ist eine Entscheidung der MT Melsungen. Dimitri, dass Eigengewächs der MT, wurde ausgeliehen. Dabei hoffte er auf einen Platz im Kader der Melsunger und hatte gerade erst seinen Vertrag bis 2024 verlängert. Momentan spielen aber dort auf seiner Position zwei deutsche Nationalspieler. Spielzeit würde er daher in den nächsten Jahren wohl kaum erhalten. Dimitri wirkt hierbei sehr selbstkritisch, spricht offen seine Naivität an, spricht von einer „rosaroten Brille“, mit der er seine Karriere begonnen hatte. Der Profisport sei ein Tagesgeschäft, hier könne man sich eigentlich nie sicher sein, wie es weitergeht. Die Spieler seien „Sportmaschinen“, die je nach aktueller Leistung ein- und aussortiert werden würden. Es ist erkennbar, dass Dimitri ist ein sehr offener Mensch ist. Er spricht gerne aus, was er denkt und er nimmt dabei kein Blatt vor den Mund oder verschönert etwas. Daher habe er auch eine Aussage, die er vor einem Jahr getroffen hatte, revidieren müssen. Damals machte er in einem Interview deutlich, dass er nur in der ersten Liga spielen möchte. Nun bleibt er aber – trotz des Abstieges – beim TUSEM Essen. Es ist offensichtlich, dass für ihn besonders seine eigene Entwicklung im Vordergrund steht. In der jungen Essener Mannschaft könne auch er mal das Kommando übernehmen und eine ganz andere Rolle einnehmen als bei der mit Starspielern besetzten MT Melsungen. Er betont aber auch, dass er nichts von dem Ideal hält, einem Verein für immer zuzusagen. Er könne deshalb nicht prognostizieren, wo er in der Zukunft spielen wird.

Dimitri Ignatow im Trikot der MT Melsungen während eines Bundesligaspiels. (Foto: Alibek Käsler)

Spaß vor Geld

Seine Einstellung zur Relevanz des Geldes ist in diesem Kontext nicht wirklich überraschen. Dimitri ist tatsächlich ein Mensch, der sich wohlfühlen muss und der den Handball liebt. Mit einem leichten Lächeln erklärt er: „Ich denke immer nur an Handball. Wenn ich an einem Sportplatz vorbeifahre und keine Handballtore sehe, werde ich sauer.“ Es sei zwar schön, eine angemessene Gegenleistung für die Aufopferung in der Jugend zu erhalten, aber es spiele für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Diese Einstellung zeigt sich auch in seinem Alltag. Dimitri ist eher ein bodenständiger Typ. Er wirkt nicht wie viele andere junge Profis, die ihr Leben gerne zur Schau stellen. Er trägt weder teure Klamotten oder Schmuck, noch hat er ein hochprofessionelles Social Media-Auftreten. Selbst seine Hobbys sind unverändert zu früher. Er zockt gerne und trifft sich mit Freunden, fährt an freien Wochenenden zur Familie und zu seiner Freundin. Generell ist Dimitri auch in seiner Freizeit sehr sportbegeistert. Er verfolgt diverse Sportligen, besonders die NBA, und probiert sich auch in den Sportarten. Dimitri ist ein aufgeschlossener und lebensfroher Mensch. Er ist ein großer Rapfan, hört zum Beispiel Apache 207, Luciano oder Pashanim. Beim Reden über die Musik, die wir früher gemeinsam gehört haben, kommen wir beinahe ins Schwärmen.

Dimitri im Trikot der Hessenauswahl. (Foto: Dimitri Ignatow)

Diese Einstellung zeigt sich auch in der Wahl seines Idols. Dimitris Vorbild ist sein ehemaliger Teamkollege Tobias Reichmann, Rechtsaußen der MT Melsungen und mehrfacher Champions League-Sieger sowie Europameister. Der Grund sei vor allem die Persönlichkeit, von der Dimitri berichtet: „Er ist einfach noch ein Kind im Kopf geblieben. Er hat immer sehr viel gelacht und Späße gemacht. Das ist auch mir wichtig und das habe ich mir auch vorgenommen.“ Außerdem habe er mit jungen Spielern auf einer Ebene agiert. Diese Harmonie ist für Dimitri wirklich wichtig. Immer wieder hebt er hervor, dass er diese lockere und spaßige Atmosphäre benötigt, mit einer sehr angespannten und distanzierten Professionalität nichts anfangen kann. Selbst beschreibt sich Dimitri als lustig und charmant, wobei er dies nur mit einem Schmunzeln wiedergeben kann. Es fällt nicht schwer, ihn als Klassen- oder Mannschaftsclown zu sehen. Auch auf dem Spielfeld ist er um keinen Spruch verlegen. Er versuche ein richtiger Trashtalker zu sein, in den Köpfen der Gegner stattzufinden und zu irritieren. Er könne aber auch anders. Passe ihm etwas nicht, würde er sich bemerkbar machen. Es ist spürbar, dass es dabei vor allem um den eigenen Ehrgeiz geht. Wenn es schlecht läuft, sei er viel mit sich beschäftigt und könne Sprüche oder Kommentare nicht gut ab. Und tatsächlich ist auch er nicht immer nur der Spaßvogel, wie er während der Beschreibung seines ersten Profispiels verdeutlicht. Übrigens hat Dimitri dazu auch eine Fülle von Ritualen, die schon eine Aufzählung benötigen: eine Lasagne essen, kalt duschen, Espresso trinken und einen Mittagsschlaf halten.

Talent oder harte Arbeit?

Dimitri würde sich selbst nicht als professionell beschreiben. Dazu fehle ihm manchmal die Lust und die Einstellung, eine Rolle einzunehmen, die er nicht gut fände. Er ist nicht der disziplinierteste Spieler gewesen, daran erinnere ich mich auch zurück. Er wirkt teilweise sehr lässig, wenn er über sein Training und den Profialltag spricht. Zurzeit ist Sommerpause. Dimitri genießt diese und macht auch wirklich frei. Er möchte abschalten und vom Sport auch mal wegkommen. Schmunzelnd erklärt er: „Wenn meine Freundin jetzt mit mir laufen will, dann sage ich: Von mir aus geh‘ joggen, aber dann setze ich mich hin und esse ein Spaghettieis.“ Das habe er sich nach einer anstrengenden Saison verdient. Diese Lockerheit mache für ihn den Handball aus. So spricht er auch über das für Profisportler wichtige Thema der Ernährung trocken: „Mein Motto ist: Es muss dir schmecken!“. Trotzdem betont er, dass er wieder voll dabei sei, wenn die Saisonvorbereitung beginnt.

Natürlich ist Dimitri trotzdem weit weg von dem Alltag eines Amateursportlers. Er hat eine Agentur und einen Berater, der sich um sportliche, aber auch marketingtechnische Verträge kümmert. Vermarktung ist hierbei tatsächlich auch schon ein Thema. Zum Beispiel unterschrieb Dimitri gerade einen Ausrüstungsvertrag mit Mizuno, vertritt die Marke also als Sportler. Insgesamt habe er immer wieder Sponsoringdeals. Social Media sei dafür heute enorm wichtig, wobei Dimitri kein Freund der dauerhaften Außendarstellung ist: „Mir ist meine Privatsphäre, aber auch die meiner Eltern und meiner Freundin wichtig, deshalb poste ich nicht ständig.“ Trotzdem ist sich Dimitri sicher, dass er den Berater benötigt. Allein könne man den ganzen Umfang der Gespräche und Verträge nicht handhaben. Sportlich hat Dimitri wohl trotz seiner Lockerheit dennoch eine Einstellung, die für den Profisport benötigt wird. Er trainiert viel und setzt sich hohe Ziele. Er selbst sagt aber auch, dass er ein gewisses Talent habe. Bei ihm fällt dem Außenstehenden sofort die unglaubliche Schnelligkeit und die enorme Sprungkraft auf. Talent reiche aber nicht aus. Dimitri selbst schätzt das Verhältnis der harten Arbeit und dem nötigen Glück „fifty-fifty“ ein, macht aber auch klar, dass ohne großen Aufwand kein Profisport möglich ist. Daher ist Dimitri auch ein Punkt wichtig, den viele Profisportler oft betonen. Vor den vielen Vorzügen, die er heute genießen kann, stand eine Jugend, in der auf vieles verzichtet werden musste. Er habe außerhalb des Handballs kaum Freunde gehabt und konnte an Wochenenden nichts machen, weil er auf Autobahnen und in Hallen unterwegs war. Rauschmittel waren immer ein Tabu für Dimitri. Sein letztes Jugendjahr verbrachte er in einer WG in Melsungen, in der die jungen Sportler untergebracht wurden, um einen besseren Ablauf zu ermöglichen. Mit seiner Freundin führe er seit Jahren eine Fernbeziehung, denn viele Wechsel bedeuten eine unsichere Zukunft. Trotzdem wisse er, dass er als Sportler, der sein Hobby als Beruf ausüben kann, privilegiert ist.

Obwohl vor allem seine Lockerheit heraussticht, hat Dimitri auch eine ehrgeizige Seite. Bisher konnte er mit der Jugend-Nationalmannschaft zwei Bronzemedaillen bei Europameisterschaften erringen, mit der MT Melsungen spielte er im EHF-Pokal international. Für sein junges Alter also eine beachtliche Vita. Seine Zielsetzung für die Zukunft ist aber noch größer, wie er mit einer gewissen Ernsthaftigkeit erklärt: „Ich will mal Welthandballer werden, dass habe ich mir schon als Kind vorgenommen.“ Mit seinen Teams, egal ob Nationalmannschaft oder Verein, möchte er möglichst alle Titel abräumen.

Dimitri im Trikot der deutschen Jugend-Nationalmannschaft. (Foto: Wolf-sportfoto)

Dimitri ist stolz auf das, was er geschafft hat. Er berichtet von Nachbarn oder Leuten von früher, die mit oder über ihn reden, die seine Eltern ansprechen oder ihm schreiben. Einige Familienmitglieder würden schon seine Karriere für ihn durchplanen, natürlich beim besten Verein und mit allem, was dazugehört, berichtet er schmunzelnd. Allerdings sei ihm diese Aufmerksamkeit auch manchmal unangenehm. Er mag es nicht, besonders behandelt zu werden. Er führt aus: „Ich bin zwar Profi, aber es soll nicht so wirken, als würde ich denken, dass ich deshalb über allem stehe.“ Er sei immer bereit, Fotos zu machen oder kurz zu quatschen, wenn man ihn fragt. Diese Einschätzung kann ich nur bestätigen.

Zum Abschluss fällt eines auf: Dimitri ist ein junger, reflektierter Sportler, der zwar locker und humorvoll ist, aber genau weiß, wo er hinmöchte. Er braucht zwar ein vertrautes und entspanntes Umfeld, weiß aber, dass seine Entwicklung im Vordergrund steht. Er ist bodenständig und trotzdem ehrgeizig genug um zu sagen: „Ich will Welthandballer werden.“ Dabei kann man ihm nur viel Erfolg wünschen!

Dimitri Ignatow – Die handballerische Laufbahn im Überblick.


Autor: Oliver Ozellis

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