Ein Spaziergang als Transgender

Göttingen – Es ist der 30. Januar 2022, ein Sonntag. Eine Sturmwarnung kontrolliert seit der vorherigen Nacht das Wetter in Niedersachsen. Am Himmel ziehen riesige dunkelgraue Wolken vorbei. Es sieht aus wie ein Flickenteppich. Die Wetter-App auf dem Handy zeigt fünf Grad an. Man hört den eisigen Wind durch die Bäume ziehen. Vögel tönen um die Wette. Die Natur ist laut, es raschelt an jeder Ecke. Aber zumindest regnet es nicht. Vermummt in mehrere Schichten Kleidung, ganz nach dem Zwiebelprinzip, schlendern zwei Personen heran: der 20-jährige Mika und Mo*e, 30 Jahre alt. Die beiden Göttinger Bewohner*innen wohnen nur zehn Minuten zu Fuß von der Leine, einem Fluss in Göttingen, entfernt. Sie wollen einen Spaziergang entlang des Wassers zum Kiessee unternehmen.

Beide tragen eine Mütze, die bis über die Ohren gezogen ist. Mika hat zusätzlich an Handschuhe gedacht. Besonders auffallend ist seine Jacke. Sie sticht direkt ins Auge. Als äußerste Kleidungsschicht stellt sie auf dem dunkelgrauen Stoff verschiedene bunte Pins zur Schau: ein weißer ist mit der Bezeichnung ‚queer2‘ beschriftet. Darunter befinden sich sechs verschiedene Quadrate in den Farben Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett. Ein anderer schwarzer Anhänger trägt die Worte ‚Male‘, ‚Female‘ und ‚Fuck off‘. Das Fuck off ist mit einem Häkchen versehen. Ein wichtiges Statement.

Mika und Mo*e sind beide transgeschlechtlich. Transgeschlechtlichkeit bedeutet, dass die Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht übereinstimmt. Mika ist trans*männlich. Der Braunhaarige erklärt: „Das heißt, ich bin als Mädchen aufgewachsen, lebe mittlerweile aber als Junge oder als Mann.“ Auch Mo*e erzählt von sich: „Ich bin nicht-binär-trans*. Das bedeutet, dass ich weder Mann noch Frau noch irgendetwas dazwischen bin, weil Geschlecht für mich keine passende Identitätskategorie ist.“ Mo*e benutzt das geschlechtsneutrale Pronomen le.

Mika und Mo*e haben schon früh festgestellt, dass etwas ‚anders‘ ist mit ihnen. „Ich habe noch nie diese typischen Mädchendinge getan“, erzählt Mika. „Aber einen richtigen Punkt, an dem ich gemerkt habe, trans* zu sein, gab es nicht.“ – „Man findet das irgendwann über eine längere Zeit für sich selber heraus“, pflichtet auch Mo*e bei. Auf ihrem Spaziergang am Fluss entlang sprechen die beiden viel über ihr Leben. Sie lachen oft zusammen. Auf dem schmalen Kiesweg müssen sie immer wieder Pfützen ausweichen, entstanden durch den Regen in der Nacht. Mo*e erzählt von einem Buch namens ‚Luna‘, geschrieben von Julie Anne Peters. „Dieses hat mir geholfen, mit der eigenen Situation umzugehen.“ Mo*es Augen starren ein wenig betrübt unter der Brille hindurch auf den Boden. „Ich habe das Buch vor meinen Eltern versteckt. Ich hatte das Gefühl, sie würden es sowieso nicht verstehen.“

Neben ihnen schwimmt eine Ente gemächlich vorbei. Die Wasseroberfläche sieht ganz faltig aus. Alles kräuselt sich durch den hinüberfliegenden Wind. In der Ferne sieht man eine steinerne Zugbrücke, die sich über die Leine erhebt. Die raschelnden Wiesen und rauschenden Bäume vermischen sich mit dem Geräusch eines vorbeifahrenden Güterzuges.

„In der Schule wollte ich nicht zur Toilette gehen.“

Mika

Die beiden Mützenträger*innen schlendern langsam weiter. Trotz des schwierigen Themas beginnen sie zu lachen. Man merkt, dass sie sich schon viel mit sich selber auseinander gesetzt haben und genau wissen, wer sie sind – Das zu sehen, ist ein schönes Gefühl. – Offen erzählt Mo*e weiter: „In der Schule wollte ich nicht zur Toilette gehen. Ich habe mich oft nur getraut, wenn alle anderen Unterricht hatten.“ Mika nickt lächelnd. Er kennt die Situation auch. Der 20-Jährige berichtet, dass die Schulzeit ein einziges ‚Blasentraining‘ gewesen sei. Auf die Jungstoilette zu gehen, habe er sich nicht getraut. Auch in Sachen Freundschaft war die Situation nicht einfach: in der sechsten/siebten Klasse hätten die anderen Mädchen gespürt, dass mit ihm etwas ‚anders‘ ist. Und bei den Jungen aus dem Jahrgang wurde er auch nicht richtig einbezogen. Als er sich aber im Herbst 2018 dann geoutet habe, hätten seine Freund*innen positiv reagiert. „Die haben schon vorher gemerkt, dass ich mich nicht mit den weiblichen Pronomen identifizieren kann.“

Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. geht in einem Beitrag von 2021 von mindestens 170.000 Trans*menschen in Deutschland aus. Dies beinhaltet allerdings nur die Personen, die über Hormone hinaus auch medizinische Maßnahmen in Anspruch nehmen. Unter Einbeziehung der nicht medizinisch-untersuchten Menschen können nach Schätzungen sogar mindestens 85.000 dazugerechnet werden. Das Sternchen hinter dem Wort trans* wird verwendet, um verschiedenen Geschlechtsidentitäten einen Raum zu geben. Teile der Gesellschaft begegnen Transgeschlechtlichen leider immer noch diskriminierend. Das etablierte binäre Geschlechtsmodell, welches nur zwischen Frau und Mann unterscheidet, lässt diverse Geschlechter komplett außer Acht. Die sozialen Erwartungen des Umfelds können die Persönlichkeitsentwicklung einer Trans*person stören oder gar unterdrücken. Alltägliche Dinge, wie der Gang auf die Schultoilette, wird durch das gesellschaftliche Festhalten an einer männlichen und weiblichen Rollenverteilung zur immer wiederkehrenden Herausforderung.

„Ich hatte das Gefühl, mich für meine Geschlechtsidentität rechtfertigen zu müssen.“

Mo*e

Auch auf der Arbeit musste Mo*e schon eine unangenehme Situation meistern. Eine Sozialarbeiterin outete Mo*e ohne Einverständnis fremd. So kam es zu einem ungeplanten Gespräch mit dem Vorgesetzten: „Er fragte, ob ich mich schon entschieden hätte. Ich wusste erst gar nicht, was gemeint war.“ Le schüttelt leicht mit dem Kopf. „Er meinte, ob ich nun eine Frau oder ein Mann sein möchte.“ Mo*e habe dann das Gefühl gehabt, sich für die eigene Geschlechtsidentität rechtfertigen zu müssen. Dass nicht-binäre Personen weder weiblich noch männlich seien. Le habe sich sehr überrumpelt gefühlt.

Der Kiessee rückt immer näher. Mika und Mo*e wechseln die Straßenseite. Beide reiben sich die Hände. Mit schon etwas bläulichen Lippen breitet Mika eine weitere Geschichte aus der Schulzeit aus. Schockierend und unglaublich: Nach Absprache mit der Schulleitung wurde eines Tages eine LGBTQ*-Flagge an die Schulmauer gehangen. Nach der kommenden Nacht war sie dort nicht mehr – wurde wahrscheinlich geklaut. Wenige Zeit später kursierte ein Video, wo die gestohlene Flagge auf einer Party verbrannt wurde. Die Polizei konnte nichts dagegen tun. „‚Aber wenigstens hilft es der Statistik‘, haben sie gesagt“, berichtet Mika.

Auch Mo*e kennt eine ähnliche Situation: „Ich wurde einmal auf der Straße von fremden Leuten angesprochen, die gefragt haben, ob ich ein Mädchen oder Junge wäre. Sie haben gesagt, sie wollen mir die Hose ausziehen, um selber nachzuschauen.“ Beide nicken resigniert. Dass sie von fremden Menschen auf ihre Geschlechtsidentität angesprochen werden, scheint nichts seltenes zu sein. Laut einer Studie der European Union Agency for Fundamental Rights 2012 wurden 54 Prozent der Befragten im Jahr vor der Datenerhebung aufgrund ihrer Transgeschlechtlichkeit diskriminiert oder belästigt. Trotzdem geben die Betroffenen oft keine Anzeige auf. In 62 Prozent der nicht-gemeldeten Fälle gaben die Befragten als Grund an, dass sowieso nichts passieren würde.

„Das war für mich ein wichtiger Schritt.“

Mika

Die beiden Göttinger*innen erreichen den Kiessee. Die Sonne spiegelt sich auf der gekräuselten Wasseroberfläche wider. Sie setzen sich auf eine Bank, die vor einem größeren Gebüsch am See steht. Dort ist es windstiller. Die beiden öffnen die mitgebrachte Limonade und prosten sich zu, Mo*e trinkt Apfel-Kirsch-Holunder, Mika entscheidet sich für Orange. Der Jackenträger eröffnet, dass er vor ein paar Wochen erst eine Mastektomie hatte: eine partielle oder vollständige Entfernung von Brustgewebe und -drüse. „Das war für mich ein wichtiger Schritt.“ Die Krankenkasse hat die Operation zum Glück übernommen. Doch einfach war das nicht. Dafür musste erst ein psychisches Leiden diagnostiziert werden.

Mit einer Änderung des Personenstandes sieht es noch schwieriger aus. Wenn man als transgeschlechtliche Person den eigenen Geschlechtseintrag austauschen möchte, ist dies mit Zeit und Kosten verbunden. Dazu zählen ein Antrag beim Gericht und das Ausstellen von zwei verschiedenen Gutachten. Für diese muss neben sehr intimen Fragen auch ein Alltagstest bestanden werden. Die Person, die den Geschlechtseintrag ändern möchte, soll für eine gewisse Zeit in dem angestrebten Geschlecht leben. Dabei müssen wohl leider viele Geschlechterklischees bedient werden. Immer in der Angst, dass der Antrag auf eine Personenstandsänderung doch abgelehnt wird. Mika äußert sein Unverständnis über die notwendigen Gutachten: „Wenn man so einen Schritt machen möchte, haben sich die Betroffenen schon vorher sehr viel mit sich selbst auseinandergesetzt.“ Er trinkt einen Schluck der orangenen Flüssigkeit. „Wenn ich genügend finanzielle Mittel habe, möchte ich auch versuchen, mich offiziell umtragen zu lassen.“ Bis dahin nutzt er einen Ergänzungsausweis. Der 20-Jährige fühlt mit seiner Hand nach einem Portemonnaie in seiner Jackentasche. Er zieht eine weiße Karte heraus und hält sie offen hin. Der flache, eckige Gegenstand sieht sehr amtlich aus und ähnelt vom bloßen Hingucken einem Personalausweis.

Der Ergänzungsausweis

Ein Ergänzungsausweis dokumentiert die selbstgewählten personenbezogenen Daten und beinhaltet ein aktuelles Passfoto. Er wird zusätzlich zum Personalausweis mitgeführt. Die Karte wird von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (https://dgti.org/) ausgestellt. Auf diese Weise sollen belastende Situationen, wie die Klärung der Geschlechtsidentität, bei einer Personenkontrolle verhindert werden. So eine Karte könne man relativ leicht bekommen, bestätigen beide.

Spazierweg an der Leine | Foto: Lea Ramke

Mika und Mo*e erheben sich von der Bank. Von der Kälte ganz durchfroren treten sie den Rückweg an. Von der Zukunft wünschen sie sich, dass in der Gesellschaft offener mit dem Thema Transgeschlechtlichkeit umgegangen wird. Denn alle sollten selbstbestimmt und ohne Angst leben dürfen, egal welche Geschlechtsidentität sie besitzen!

Von Lea Ramke

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