Bild: Ehsan Kangarani
Richter, Staatsanwalt, Lehrbeauftragter an der Universität Göttingen – und nun „Quereinstieg“ in die Politik. Der erst 39-jährige Dr. Ehsan Kangarani hat beruflich schon viel erlebt. Was treibt ihn an, gerade in dieser schwierigen Zeit als Oberbürgermeister in Göttingen zu kandidieren?
„Quereinsteiger“ – ist das überhaupt der passende Begriff? Es ist einer, den man eben zuallererst assoziiert, wenn man Kandidat:innen für ein politisches Amt betrachtet, die zuvor noch nicht für ein solches kandidiert haben oder gar eines ausgefüllt haben. Für Ehsan Kangarani ist es schlicht „die einfachste Möglichkeit, um herauszustellen, dass jemand bisher keine politischen Ämter bekleidet hat“. Es ist sozusagen der Gegenentwurf zur üblichen Politiker:innenkarriere, auf der ein bestimmtes Amt die nächste Stufe darstellt. Dieser Weg allein ist für Kangarani allerdings kein ausreichender Beweis dafür, für ein Amt qualifiziert zu sein. Dazu käme es viel mehr auf die Soft Skills an, etwa die Verantwortung für Mitarbeiter:innen oder Entscheidungen im Sinne der Bürger:innen und des Staates zu treffen und zu vertreten. Seine Tätigkeiten als Richter, Staatsanwalt und zuletzt als Verwaltungsbeamter in der Niedersächsischen Justiz hätten ihn hervorragend ausgebildet, Entscheidungen im Sinne des Staates und auch der Bürger:innen zu treffen und die Verantwortung für Mitarbeiter:innen zu tragen, erklärt Kangarani. Insofern würde er den Begriff des Quereinsteigers in seinem Fall nicht als passend empfinden, da dieser außer Acht lassen würde, ob ein Mensch die Kompetenzen für ein Amt mitbringen würde. Will man aber den Begriff des Quereinsteigers im politischen Bereich erklären und sucht hierfür ein Beispiel, es würde sich wohl kaum ein passenderes finden als Ehsan Kangarani. Er bezeichnet sich selbst als Streber. Das sei in der Schule uncool gewesen, komme ihm in seinen beruflichen Tätigkeiten aber sehr gelegen.
Damit gerechnet, sich einmal als Oberbürgermeisterkandidat oder überhaupt für ein politisches Amt aufstellen zu lassen, habe er jedenfalls nicht. So kam der Impuls hierzu auch gar nicht von seiner Seite. Die CDU hatte ihn im Herbst letzten Jahres gefragt, ob er sich vorstellen könne, bei der Kommunalwahl am 12.09.2021 als Oberbürgermeisterkandidat zu kandidieren. Anschließend wurde er vom Gesamtvorstand der Göttinger Partei einstimmig nominiert. Die formale Aufstellung erfolgte Anfang April auf der Mitgliederversammlung der Göttinger CDU, bei der Kangarani einstimmig für die Oberbürgermeisterwahl nominiert wurde. Mitglied oder gar parteipolitisch engagiert war er zuvor nicht, auch wenn er die CDU als die Partei bezeichnet, die seinen Ansichten schon immer am nächsten kam. Er sei auch immer schon ein „politischer Mensch“ gewesen, sagt Kangarani, „dafür braucht man kein politisches Amt zu bekleiden“. Die ebenfalls im vergangenen Jahr zur Vorsitzenden des Göttinger Stadtverbandes der CDU gewählte Carina Hermann kannte er außerdem schon aus gemeinsamen Zeiten in der Justiz.
Und doch ist die Partei in Kangaranis Webseitenauftritt sowie auf den Flyern, die den Bürger:innen in die Briefkästen gelegt werden, auffällig unauffällig. Natürlich – und er legt Wert darauf, dies herauszustellen – wird die CDU erwähnt und erklärt er, dass diese ihn als Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt nominiert habe. Das Parteilogo aber sucht man vergeblich. Dies sei kein Etikettenschwindel, betont Kangarani. Er wolle damit vielmehr herausstellen, dass er über Parteigrenzen hinweg allen Göttingerinnen und Göttingern ein Angebot unterbreiten möchte, wenngleich er sehr stolz sei, dass die CDU ihn als Kandidaten aufgestellt hat. Ohnehin wiederholt Kangarani mehrmals seine Vorstellung eines Oberbürgermeisters, der für alle Bürger:innen da sein müsse und nicht dazu da sei, die absoluten Interessen einer Partei streng nach Parteibuch durch- und umzusetzen. Betrachtet man jedenfalls allein den optischen Auftritt Kangaranis könnte man eher darauf kommen, die Partei, die ihn aufstellte, würde „Göttingen gewinnt“ heißen. Dieser Name mit dazugehörigem Logo und dem Slogan „Neue Energie, damit Göttingen gewinnt“ bestimmen den Auftritt Kangaranis:
Die eigene Person und die politischen Ziele bekannt zu machen, das ist für Politiker:innen in Pandemiezeiten eine besondere Herausforderung. Denn mit Slogans wie „Sie kennen mich“, wie ihn Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits genutzt hat und den zuletzt auch der Baden-württembergische Winfried Kretschmann auf Wahlplakaten präsentiert hatte, können Kommunalpolitiker:innen oftmals nicht überzeugen. Schon gar nicht, wenn diese – so wie Kangarani – zuvor keine Mandatsträger:innen waren. Der klassische Wahlkampf in der Fußgängerzone oder durch die Teilnahme an Diskussionsrunden und anderen Veranstaltungen, auf denen sich Kandidat:innen einer breiteren Menge an Menschen vorstellen können, fallen pandemiebedingt zurzeit aus. Da kommt es sehr auf Social-Media an, wobei Kangarani anmerkt, dass dieses Instrument nach wie vor nur einem begrenzten Teil der Bevölkerung zugänglich wäre. Die großen Massen an Bürger:innen kann er so natürlich nicht erreichen und mobilisieren. „Die Pandemie stört die Bekanntmachung“, sagt Kangarani und bezieht dieses Problem nicht allein auf sich. Er sieht sich nicht einmal stärker im Nachteil als die beiden anderen Kandidatinnen der SPD und der Grünen. Er spricht von einer hohen Anzahl an Nichtwählern bei den vergangenen Kommunalwahlen und in dieser Gruppe geht Kangarani davon aus, dass die drei Kandidat:innen gleichermaßen unbekannt seien. Daran ändere auch das Amt als Sozialdezernentin nichts, welches die SPD-Kandidatin Petra Broistedt innehabe. Ein bisschen spielt ihm in die Karten, dass der amtierende Oberbürgermeister der SPD nicht erneut antritt. Es wäre eine andere, wahrscheinlich schwierigere Ausgangslage gewesen.
„Wir sind in Bezug auf die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in einer Phase des stillen Refluxes“
Ehsan Kangarani
Dass er – sollte er gewählt werden – nicht lange Zeit hat, sich einzufinden, zuerst einmal alle Mitarbeiter:innen kennenzulernen und „zu gucken, ob er sich wohlfühle im neuen Amt“, ist ihm bewusst. Zu dringend sind die Themen, die in der aktuellen Zeit anliegen. Die oberste Aufgabe des zukünftigen Oberbürgermeisters oder -Bürgermeisterin sei ohne Zweifel, den Schaden der Stadt in Folge der Pandemie möglichst gering zu halten, sodass sie an Güte und Wert nicht verliert. Die Corona-Pandemie vergleicht Kangarani mit einem „stillen Reflux“: Magensäure sammelt sich in der Speiseröhre, oftmals ohne, dass die oder der Betroffene etwas davon mitbekommt und irgendwann wird es plötzlich sehr schmerzhaft. „In Bezug auf die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind wir gerade in einer Phase des stillen Refluxes“, warnt Kangarani. Es würde zwar Anzeichen wie etwa signifikant sinkende Gewerbesteuereinnahmen geben, die ganzen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie könnte man aber noch gar nicht abschätzen und würden sich erst späterhin offenbaren, womöglich ebenfalls mit einem plötzlichen und schmerzhaften Gefühl. Das bringt einen unweigerlich zu dem Thema, wie die Stadt der Zukunft aussehen mag. Kangarani spricht von der Selbstverständlichkeit, die viele Bürger:innen gerade in einer Stadt wie Göttingen hätten, dass in der Stadt alles verfügbar sei, was sie für ihren Alltag benötigen würden. Die Politik habe die Pflicht, sich darum zu bemühen, dass diese Selbstverständlichkeit bestehen bleibt. Den örtlichen Handel für tot zu erklären, davon halte er nichts: „Amazon ist nicht für alles die Lösung“.
Und dann ist da ja noch der Klima- und Umweltschutz. Auch dieses Thema darf aufgrund der Pandemie nicht vernachlässigt werden oder zu Gunsten der Pandemiebewältigung zunächst zurückstehen. „Man muss hier sofort agieren, weil wir beim Thema Klimaschutz jetzt schon viel zu spät hinten dran sind“. Er hat den Klimaschutz und die CO2-Reduzierung zu einem, wenn nicht dem zentralen Thema seiner Agenda gemacht. Musste er an der Basis denn große Überzeugungsarbeit leisten? Zumal das Thema Klimaschutz und der Kampf gegen den Klimawandel in den vergangenen Jahren bei den meisten Menschen nicht zuerst mit der CDU verbunden wurde und ihr vielerorts vorgeworfen wird, zu wenig gegen den Klimawandel zu unternehmen. Ehsan Kangarani hält dagegen: Gerade die CDU in Göttingen sei seiner Wahrnehmung zufolge auf diesem Gebiet schon immer aktiv gewesen, teilweise zwar mit anderen Schwerpunkten, er habe aber nicht besonders dafür werben müssen, den Klimaschutz in seinem Programm voranzustellen.
„Wählt man den Weg in die Politik, gibt man den Schutz der Robe auf“
Ehsan Kangarani
Eine Aufstellung als Kandidat für ein politisches Amt bringt gewiss auch negative Randerscheinungen mit sich. Und das wird noch deutlicher, wenn man zuvor nicht als Person des öffentlichen Lebens präsent war. Auf den Social-Media-Kanälen von Kangarani findet sich nicht nur Zustimmung für ihn und seine Vorhaben und es bleibt auch nicht bei konstruktiver Kritik. Man liest üble Kommentare, nicht selten in Verbindung oder direkt bezogen auf seinen Migrationshintergrund. Dies ist leider Alltag für viele Politiker:innen. Insofern habe er damit gerechnet und sei es Teil seiner Entscheidungsfindung gewesen, mit solchen Angriffen leben zu müssen. Die Entscheidung, sich aufstellen zu lassen, sei insbesondere deshalb nicht leicht gewesen. Zwei besonders erschreckende Kommentare hat er auf Social-Media als Screenshot geteilt, dahinter steckte vor allem die Message: „Ich lasse mich davon nicht unterkriegen“. In seinen bisherigen beruflichen Stationen als Richter und als Staatsanwalt war er dies nicht gewohnt. Zwar würden sich die Menschen auch hier über Entscheidungen aufregen, zumal diese oft auch ihren weiteren Lebensweg bestimmen. Persönliche Angriffe seien dort aber die Ausnahme und schlechtes Verhalten oder Beleidigungen im Gerichtssaal ihm gegenüber hat Kangarani noch nicht erlebt. Er bringt diesen Unterschied zwischen Justiz und Politik vor allem mit der Arbeitskleidung der Richter:innen in Verbindung: Man erhalte durch die Robe im Gerichtssaal mehr als nur physischen Schutz. Geht man jedoch den Weg in die Politik, so verliert man den Schutz dieser Robe. Ehsan Kangarani war bereit dazu, diesen Schutz aufzugeben, er weiß aber auch: Es wird ihm persönlich einiges abfordern, das unbeschadet zu überstehen.