Ein tropischer Arbeitsplatz - Michael Schwerdtfeger im Gewächshaus Foto: Swantje Hennings

Michael Schwerdtfeger liebt seinen Beruf. Seit 25 Jahren ist der promivierte Biologe wissenschaftlicher Leiter des Alten Botanischen Gartens in Göttingen. Hier rückt der selbsternannte Vollblutbiologe nicht nur Menschen und Pflanzen wieder näher zusammen, sondern vereint gleichzeitig seine beiden Leidenschaften: Die Botanik und das Tätowieren.

Ein tropischer Arbeitsplatz – Michael Schwerdtfeger im Gewächshaus.
Foto: Swantje Hennings

Es ist sehr windig in Göttingen. Die Bäume neigen sich unter den starken Böen und die Menschen auf der Straße halten ihre Kapuzen fest. Die Tore des Alten Botanischen Gartens klackern und bleiben heute wegen der Wetterlage geschlossen. Es ist zu gefährlich. Der graue Flur im Institut für Pflanzenwissenschaften passt sich dem grauen Wetter an und durch den gläsernen Eingang sind die Gewächshäuser zu sehen. Auf dem Boden treibt der Wind die Kieselsteine vor sich her. Dann öffnet Gartenleiter Dr. Michael Schwerdtfeger seine Tür und gibt Einblick in sein Büro. In seinen zwei Büroräumen hat er viele unterschiedliche Pflanzen in weißen Übertöpfen untergebracht. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Bücher, Zettel und Aktenordner. Im Nebenraum reihen sich gut gefüllte Bücherregale an einander. Der Blickfang des Büros steht direkt neben der Tür und sorgt für eine grüne Atmosphäre im Raum. Es ist ein großes Terrarium, von oben gut ausgeleuchtet und befüllt mit sich nach oben rankenden Pflanzen und Zweigen. „Da kommen bald Tiere rein“, versichert Michael Schwerdtfeger und schaut sich dabei das Innere des Glaskastens noch einmal genauer an.

Die Sonne scheint durch die Bürofenster und erhellt den Raum. Draußen sind vorbeilaufende Menschen zu sehen, die sich angestrengt die Jacken zuhalten. Auch wenn es Anfang März noch ziemlich frisch ist und kaum bunte Blumen oder grüne Bäume zu sehen sind, laufen die Arbeiten von Herrn Schwerdtfeger und seinem Team in dem vier Hektar großen Areal auf Hochtouren. „Bei uns gibt es keine ruhige Zeit, gerade weil wir ein Botanischer Garten sind. Wir haben Pflanzen aus aller Welt. Zum Beispiel Kakteen, Orchideen, lebende Steine und auch Pflanzen aus dem Tropischen Regenwald und die kennen keinen Winter. Es gibt also keinen Tag im Jahr, wo die Arbeit geringer ist“, erklärt Michael Schwerdtfeger.

Klein, aber fein. Im Botanischen Garten gibt es vieles zu entdecken. Foto: Swantje Hennings

Seit 25 Jahren ist er der Kustos des Alten Botanischen Gartens der Georg-August-Universität Göttingen. Der Garten liegt zwischen Zentralcampus und Innenstadt, also quasi im Herzen Göttingens. Als Kustos ist er für die wissenschaftliche Leitung zuständig. Das heißt, dass er sich um die Sammlung des Gartens kümmert, Lehrveranstaltungen gibt und sich mit nationalen und internationalen Wissenschaftlern austauscht. Auch die Öffentlichkeitsarbeit gehört zu seinem Arbeitsfeld, das dem studierten Biologen zwar viel Zeit kostet, aber umso mehr Spaß macht. Als Dozent gibt er Botanik-Kurse für Studierende im ersten und dritten Semester, als Gartenleiter macht er öffentliche und private Führungen für Kirchengemeinden oder Landfrauengruppen und steht auch sonst gerne Rede und Antwort, wenn es um botanische Fragen der Besucher geht: „Für die Leute ist es ja immer neu und ich sehe dann ein Leuchten in den Augen und bekomme Feedback. Das macht mir total Spaß.“ Sein Blick gleitet nachdenklich zur Decke. „Ich bin sozusagen die Schnittstelle zwischen den Menschen und den Pflanzen.“ Er muss schmunzeln.

Plötzlich klingelt das Telefon auf seinem Schreibtisch. Er hebt ab und lauscht konzentriert. Nach zwei Sekunden lacht er laut auf: „Ich heiße Schwerdtfeger und nicht Schwertträger. Schwertträger sind Zierfische. Sind Sie Aquarianerin? Ach nein? Hätte ja sein können…“ Am Telefon ist eine ältere Dame und mit Fischen hat sie wohl weniger zu tun. Es war nur ein Versprecher. Er nimmt es ihr nicht krumm und hört ihr weiter nickend zu. Doch mitten im Gespräch hört man plötzlich nur noch ein Tuten. Irritiert schaut er den Hörer an und hält ihn sich noch einmal ans Ohr. „Hallo?“ Die Frau am Telefon hat wohl unabsichtlich aufgelegt. Verwundert legt Michael Schwerdtfeger auf. Im Telefonat ging es um die Frage, ob der botanische Garten ihre drei Meter hohe Zimmerpflanze, eine Araukarie, übernehmen könnte. Sie hat zuhause einfach keinen Platz mehr und bringt es nicht übers Herz die Pflanze zu entsorgen. Solche Anrufe erreichen ihn öfter, meint Michael Schwerdtfeger. Meistens sind es zu großgewordene Zimmerpflanzen: „Riesige Yuccas, eine Monstera, große Kübelpflanzen oder irgendwas anderes, was einem lieb und wert geworden ist.“ Solche Anfragen kommen mindestens einmal die Woche, doch der Botanische Garten hat selbst zu wenig Platz, um sich darum zu kümmern.

Auch wenn der Garten heute geschlossen bleibt, ist er trotzdem mit 100.000 Besuchern im Jahr und 700 Menschen im Förderverein eine beliebte Sehenswürdigkeit in Göttingen. Die Beliebtheit ist groß, das Budget eher klein. „Arm, aber sexy“, fasst Michael Schwerdtfeger die Lage lachend zusammen. Im letzten Jahr sorgte eine Sensationspflanze für besonderes Aufsehen: Amorphophallus titanum oder auch Titanwurz genannt. Die Blüte des Titanwurzes kann auf Menschengröße anwachsen und blüht nur für eine Nacht. Einziges Manko des Blütenstandes – er verbreitet einen sehr unangenehmen Geruch. Doch das hat die Göttinger nicht abgeschreckt. Täglich kamen die Menschen in Scharen vorbei und fragten den Gartenkustos Schwerdtfeger, wann denn endlich die Titanwurz blüht. Um alle Botanikbegeisterten auf dem Laufenden zu halten, erstellte er bei Facebook die Seite „Vollblutbiologe“ und gab von Februar bis März regelmäßig Prognosen, wann sich die Titanwurz nun endlich öffnet. Am 3. März 2018 war es endlich soweit und die Menschen strömten in das Gewächshaus, um die riesige, stinkende, phallusartige Pflanze zu bestaunen. Der Andrang hielt bis 2.30 Uhr an. Doch Michael Schwerdtfeger wollte natürlich, dass die Besucher auch anderen Pflanzenarten ihr Interesse schenken, weswegen er nun regelmäßig seine fast 500 Facebook-Follower mit Tagebucheinträgen und Bildern aus dem Alten Botanischen Garten versorgt. Das findet Anklang. In den Kommentaren gibt es Lob für schöne Passionsblumen, Fragen zur richtigen Bewässerung oder Tipps für selbstgemachtes Quittengelee.

Die Titanwurz im März 2018.
Foto: Kristin Fricke

Im Winter hat, wie der Gartenleiter und Teilzeit-Influencer Schwerdtfeger beschämt zugibt, die Menschen auf Facebook allerdings ein wenig vernachlässigt. Grund dafür war seine zweite Leidenschaft, die er vor allem bei Instagram auslebt: Tätowierungen. Die faszinierten ihn schon seit frühster Kindheit, doch in seiner Generation haben Tattoos bis heute keinen guten Ruf: „Tattoos waren für verkrachte Existenzen, sagte man. Es waren damals aber auch nur so grottige Motive, die man sich von besoffenen Bikern in einer Kellerkaschemme hat stechen lassen“, sinniert Michael Schwerdtfeger belustigt. Heutzutage sei es anders. Auf Instagram postet er seine selbstgezeichneten Tattoovorlagen. Mittlerweile sind es schon 161 Fotos, durch die sich seine Abonnenten scrollen können. Es sind filigran gezeichnete botanische und zoologische Motive, wie Blumen, Vogelspinnen und Giraffen. „Zufällig habe ich alle Originale hier.“ Er springt auf, eilt ins Nebenzimmer und kommt mit einer großen blauen Mappe zurück, die er auf dem grauen Boden ausweitet. Darin befinden sich zahlreiche Zeichnungen auf weißem Papier, gut geschützt durch Klarsichtfolien. Mit leichten Fingerbewegungen zeigt er an den Bleistiftzeichnungen auf die feinen Striche und Verläufe. Dabei erzählt er mit großer Begeisterung von seinen Studierenden, die sich diese Motive von ihm zeichnen und auch von ihm tätowieren lassen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um bleibende Hautbilder, die mit einer Tattoonadel gestochen werden, sondern um die Pflanzenfarbe Jagua aus Mittel- und Südamerika, die, ähnlich wie das bekanntere Pendant Henna, aufgemalt wird. Jagua wird aus dem Fruchtsaft eines Regenwaldbaums gewonnen, färbt die Haut dunkelblau und hält etwa zehn Tage. Michael Schwerdtfeger ist weltweit der erste, der ein Buch über dieses Thema veröffentlicht hat: „Es ist Biologie durch und durch. Nicht nur die Motive, sondern auch der Farbstoff.“

Diese beiden Leidenschaften, Tätowierungen und Biologie, hat der Göttinger Kustos nicht nur in Buchform, sondern auch in dem Vortrag „Promoviert und tätowiert. Tattoos zwischen Wissenschaft und Leidenschaft“, vereint, der sowohl bei Studierenden, Rentnern und – zu seiner Überraschung – bei Wissenschaftlern gut ankommt. Dabei ist es ihm lange schwergefallen über diese Affinität unter seinen Kollegen zu sprechen: „Es ist ja fast sowas wie ein Outing, dass man unter seriösen Kustoden diese Tattoo-Bombe platzen lässt.“ Aber dieses unkonventionelle Wissen innerhalb seines Faches erweckt das Interesse bei den Menschen, sodass er seine Vorträge nicht nur in Göttingen, sondern auch in anderen Städten wie Kiel und Darmstadt halten kann. Heute Abend hat er wieder eine Jagua-Session, wie er es nennt. Die Vorfreude ist ihm deutlich anzusehen: „Dieses Doppelleben als seriöser Botaniker und Tattookünstler macht mir sehr viel Spaß.“

Für eine Zeichnung braucht Gartenkustos Schwerdtfeger vier bis sechs Stunden.
Foto: Swantje Henning

Vom grünen Büro geht’s nun ins grüne Gewächshaus. Draußen peitscht der Wind gegen die Tür, doch im Gewächshaus steht die Luft. Sie ist warm und feucht. Nicht nur wichtig für die tropischen Pflanzen, sondern auch sehr angenehm für Michael Schwerdtfeger: „So ab 30 Grad komm ich so langsam auf Temperatur.“ Beim schnellen Durchgehen durch die drei Trakte entdeckt er an den verstecktesten Ecken Kleinigkeiten, die dem Laien entgehen. Eine rote Blüte oder einen kleinen Zweig, der nun schwarze Früchte trägt. Dabei fängt er fast schon reflexartig an den aktuellen Stand der Pflanze zu erklären. Seine Begeisterung ist spürbar, doch hier sind keine großen Massen, die er damit anstecken könnte. Heute tummeln sich keine Besucher in den Gewächshäusern, keine Landfrauengruppe und auch keine anderen Gartenkustoden, denen er das alles bis ins Detail erklären könnte. Dabei gäbe es genug zu erzählen. Der Alte Botanische Garten ist und bleibt sein einziges Forschungsprojekt, ihm genügt aber, was er damit erreichen kann. „Es ist schön. Es kostet zwar viel Zeit und wenn ich in Rente gehe, kann ich nicht so viele Publikationen vorweisen. Aber dafür habe ich ganz vielen Menschen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, weil ich ihnen ganz viel über Grünzeug und Viecher erzählt habe.“ Draußen hat sich der Sturm ein wenig gelegt. Die Bäume rauschen nur noch leise vor sich hin. Im Gewächshaus steht die Luft immer noch. Am Tor des Gartens stehen zwei Frauen und schauen auf das „Heute geschlossen“-Schild. Vielleicht kommen sie morgen wieder. Das Grünzeug wird noch da sein und Michael Schwerdtfeger sicherlich auch.

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