Ein Freitag im Juli. Der Himmel ist wolkenverhangen, es regnet schon seit Stunden in Strömen. Das satte Grün der Leinewiesen hebt sich leuchtend vom grauen Himmel ab. Auch heute hat sich Torben Westphal, wie jeden Tag, wieder in seinen Transporter gesetzt, um nach seinen Schafen zu schauen. Er trägt Regenhose und Regenjacke, Gummistiefel. Auf seinem braunen Hut sammelt sich das Wasser. Unter dem Hut: ein rot-brauner Bart und ein freundliches Lächeln. Er hat mich erkannt und winkt. Zäune ziehen, das steht heute auf dem Programm.
Wenn man Westphal nach seinem Beruf fragt, lässt er sich nicht zwei Mal bitten, davon zu erzählen. Seit 2,5 Jahren („gefühlt schon ewig!“) arbeitet er als Schäfer in der Schäferei Gutinga. Die Schäferei besitzt insgesamt 700 Tiere, die sich auf 10 Herden verteilen und gehört damit zu den größten Schäfereien im Göttinger Umland. Hauptsächlich Schafe: Leineschafe, Skudden, Heidschnucken, aber auch Ziegen. „Die Schäferei“ gibt es nicht, die Herden weiden alle an verschiedenen Orten im Umkreis von Göttingen, von Hessen bis nach Thüringen. Die Schäferei hat sich der ökologischen Grünflächenpflege verschrieben, die Schafbeweidung dient dem Naturschutz und dem Erhalt der Biodiversität. Die größte Herde, etwa 220 Schafe, ist seit nun einem Jahr im Göttinger Stadtgebiet, entlang der Leineufer, zu beobachten. Zwei Mal im Jahr ziehen sie vom Flüthewehr, südlich des Kiessees, bis zum Gebiet des Tierheims, im Norden der Stadt, durch die Leineauen. Dort weiden sie auch aktuell.

Die Beweidung der Göttinger Leineauen

Dass man mitten in der Stadt ist, bemerkt man höchstens am Rauschen der Bundesstraße, die ganz in der Nähe über eine Brücke führt und an den gelegentlich zu hörenden Martinshörnern. Diese menschengemachten Geräusche mischen sich mit dem sanften Geplätscher der Leine und dem Prasseln des Regens. Dazwischen: vereinzeltes Schafgeblöke. Die Idee zur Beweidung der Leineauen ist nicht neu: bereits in der Vergangenheit zog ein Wanderschäfer mit seiner Schafherde entlang des Flusses durch die Stadt. Die Tiere tragen dabei in vielerlei Hinsicht zum Naturschutz und zur Landschaftspflege bei: einerseits hält ihr Grasen den Gras- und Buschbewuchs klein, sodass der Einsatz von Mähmaschinen überflüssig wird. Anderseits führen sie dem Boden durch ihren Kot wichtige Nährstoffe zu. Zuletzt hilft ihr „goldener Tritt“ die Grasnarbe zu verfestigen, Mäuselöcher zu schließen und den Boden so resistenter gegen Hochwasser werden zu lassen. Die Schafbeweidung hat damals offenbar nicht nur der Natur gefallen: Auf Initiative von Göttinger Bürgern hin entschied die Stadt im Jahr 2019 die Schafe erneut an die Leine zu holen.


Schäfer aus Überzeugung


Der 34-jährige Torben Westphal ist kein ausgebildeter Schäfer, sondern ein „Quereinsteiger“, wie er sagt. Zum Job des Schäfers ist er über Umwege gekommen:

Was ihm am Beruf des Schäfers gefällt? Ganz klar: „Die Schafe!“, sagt er und schmunzelt. „Schafe sind sehr robuste Tiere, die können bei Wind und Wetter draußen stehen.“; führt er aus. „Bei diesem Regen würden die Ziegen schon schlottern und müssten in den Stall. Die kommen ja aus dem Süden.“ Den Schafen würde das kalte und nasse Wetter weniger ausmachen, erklärt Westphal. „Es ist ein schönes Gefühl abends nach Hause zu gehen und zu wissen, dass es den Schafen gut geht.“, sagt Westphal. Neben ihrer Robustheit gefällt ihm auch das friedliche und soziale Wesen der Schafe: „Das sind einfach super angenehme Tiere und man kann auch ganz viel von denen lernen, was grundsätzliche Verhaltensweisen angeht.“, sagt er begeistert. Er erklärt, dass Schafe sehr stark an ihrer Herde orientiert seien und es unter ihnen keine Hierarchie gäbe. „Unter den Schafen sind alle gleich.“, fügt er hinzu. Er erklärt, dass es in jeder Herde zwar sogenannte Leitschafe gäbe, dass dies jedoch eher situationsabhängig sei. Im Gegensatz zu beispielsweise Ziegen, würden Schafe nicht miteinander um die besten Futterplätze kämpfen oder schwächeren Schafen die Nahrungsaufnahme verwehren. Dass Schafe zudem sehr lernfähig sind und ihren Schäfer sehr gut wiedererkennen, wird deutlich als er sie ruft und sie angerannt kommen.

Wenn der Schäfer seine Tiere ruft, kommen sie und umringen ihn. Foto: Tabea Kunz

Wenn Torben Westphal so von den Schafen spricht, wird sofort deutlich, dass er Schäfer aus Leidenschaft ist. Neben der Liebe zu den Schafen steht für ihn sein ideeller Antrieb klar im Vordergrund. Nicht zuletzt ist für ihn die größte Motivation, dem Klimawandel, den er als drängendstes Problem unserer Zeit betrachtet, etwas entgegen zu setzen. Seine Mine verfinstert sich als er die Untätigkeit der Politik und die fehlenden Bemühungen vieler Industrienationen, endlich etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen, thematisiert. „Zu wissen, dass ich mit meiner Arbeit etwas bewege, oder zumindest nicht zur Verschlimmerung der Situation beitrage, lässt mich abends gut schlafen“, sagt er nachdenklich. Westphal war in der Vergangenheit auch politisch aktiv und macht sich Gedanken um die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Dass nun mitten in der Stadt wieder Schafe grasen, sieht er als Chance, um Mensch und Natur wieder einander anzunähern. Er erzählt, dass er ständig in Kontakt mit Göttinger Bürgern ist, die ihn während der Arbeit ansprechen, um ihm Fragen zu den Schafen zu stellen. Westphal plant nun, sobald es die Coronasituation wieder zulässt, die Schafe für die ökologische Bildung zu nutzen und Schulklassen, sowie Kindergartengruppen zu ihnen zu lassen. Das Echo von den Göttinger Bürgern zu den Schafen sei größtenteils gut, sagt er. Nur sehr vereinzelt gäbe es negative Stimmen oder Probleme mit Personen, die unerlaubterweise ins Gehege klettern würden. Dabei gab es zu Anfang durchaus auch Personen die Zweifel anmeldeten, inwiefern die Schafbeweidung eine Bereicherung für die Stadt darstellen würde, denn: ein Rasenmäher schneidet das Gras nun einmal gründlicher.


Schäfer: Hobby und Beruf

Die ideelle Motivation, der Spaß bei der Sache, die Leidenschaft: für Torben Westphal zwingende Voraussetzungen, um den Beruf des Schäfers auszuüben, der auch Schattenseiten hat: „Eine Familie kann ich von dem Job nicht ernähren.“ sagt er.
Eigentlich immer sind die Schäfereien auf Subventionen angewiesen, um über die Runden zu kommen. Grund dafür ist mitunter der seit Jahren nicht mehr gestiegene Fleischpreis, der die stetig wachsenden Kosten schon lange nicht mehr deckt. Nicht einmal mit der Wolle der Schafe lasse sich heutzutage noch Geld verdienen: Die Kosten des Schafscherers übersteigen den Gewinn der Wolle bei weitem. „Die Leute wollen heute eigentlich nur noch hochqualitative Merinowolle“, so Westphal. Trotzdem müssen die Schafe, zu ihrem eigenen Wohlergehen, regelmäßig geschoren werden. Die Uni Kassel verarbeitet die Schafwolle, im Rahmen eines Projekts, zu Pellets. Denn diese hat so nützliche Eigenschaften, dass sie als Pflanzendünger und Wasserspeicher im Garten eingesetzt werden kann.
Das Schäfersein ist ein Knochenjob. Dass Schäfereien sich überhaupt einen Mitarbeiter leisten, wie in der Schäferei Gutinga, sei eine Seltenheit. Viel häufiger stemmt ein einziger Schäfer die ganze Arbeit alleine, rund ums Jahr. Burnout – unter Schäfern eine weit verbreitete Berufskrankheit. „Ich klappere jeden Tag die Schafherden ab, Wochenende gibt es bei uns eigentlich nicht.“, berichtet er. Mal ein Tag frei, geschweige denn Urlaub, sei eigentlich nicht drin, so Westphal. Kürzlich musste er sich einer Zahn-OP unterziehen, erzählt er. Um sich danach einen Tag auskurieren zu können, musste er am Vortag entsprechend mehr arbeiten. Work-Life-Balance? Vereinbarkeit von Beruf und Familie? „Schwierig!“, sagt Torben Westphal. Aber er hat Glück „Meine Frau ist auch Landwirtin und hat deshalb Verständnis für die Situation. Am Wochenende hilft sie auch manchmal bei mir mit“. Allzu viel scheint ihm die viele Arbeit jedoch nicht auszumachen. Torben Westphal lebt für seine Schafe. Als er vor einiger Zeit doch mal einen Tag Urlaub machen konnte, war das für ihn erst einmal ungewohnt, „Das war so unangenehm!“, sagt er lachend. Für Westphal ist der Job des Schäfers auch gleichzeitig ein Hobby. Abwechslungsreich sei der Job allemal. „Jeder Tag ist anders.“, so Westphal. Neben den täglichen Besuchen bei den Schafen fallen Routinetätigkeiten, wie das Zäunebauen, an. Im Moment könne er sich seine Zeit relativ frei einteilen. „Dadurch, dass es so viel geregnet hat und alles so gut wächst, können die Schafe gerade länger an einem Ort bleiben und müssen weniger bewegt werden“, sagt er. Deshalb sei es gerade relativ entspannt und die Arbeitstage nicht allzu lang. Im Winter, wenn ein Teil der Tiere in den Ställen ist, falle deutlich mehr Arbeit an. Diese Periode gefalle ihm sowieso weniger gut, sagt er, viel lieber wäre er immer mit den Schafen draußen.

Hier draußen bei den Schafen ist er in seinem Element. Ganz selbstverständlich stapft er durch den Matsch und das nasse Gras der Leinewiesen, schüttelt den Eimer mit dem Getreide für die Schafe und lässt sich geduldig von einer Traube Tiere umringen. „Das hier ist ein sehr altes Schaf, das ganz wichtig ist für die Herde“, sagt er und zeigt auf ein dickes Schaf, dass sich ihm langsam genähert hat, um nun an seiner Hand zu schnuppern. Der Umgang zwischen den Schafen und ihrem Schäfer wirkt vertraut und ganz natürlich.

Schafe sind sehr neugierige Tiere. Foto: Tabea Kunz


Torben Westphal verfügt über ein breites Wissen über eine Vielzahl naturwissenschaftlicher Zusammenhänge. Neben den Kenntnissen, die er sich im Rahmen seines Studiums angeeignet hat, liest er sich vieles selbst an. So kann er nicht nur ganz genau sagen, ob es einem Schaf gut oder schlecht geht, oder welche Eigenschaften eine gute Weide ausmachen. Zusätzlich ist er in der Lage alle Pflanzenarten in der Umgebung zu bestimmen.
Für den vielseitigen Job als Schäfer gute Voraussetzungen. Torben Westphal kann sich jedenfalls nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu machen und wünscht sich auch in der Zukunft weiterhin als Schäfer tätig sein zu dürfen.

Torben Westphal findet Erfüllung in seinem Job als Schäfer. Foto: Tabea Kunz

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