„Wie geht’s?“, fragt Katja Brenner, 56, mit einem offenen Lächeln. Ihr gegenüber auf der anderen Seite des Couchtisches sitzt ein Paar in den Dreißigern, Anne und Erik Stüwe. Die brünette Frau im türkisenen Pullover streicht sich über den gewölbten Bauch und beginnt zu erzählen. Darüber, dass ihre Brüste mittlerweile sehr empfindlich sind und sie Probleme mit dem regelmäßigen Stuhlgang hat. Und, dass ihre Stimmungsschwankungen ihr zu schaffen machen. „Wie geht es deiner Vagina?“, will Katja Brenner wissen. Von außen betrachtet erscheint die Situation irritierend.

Untersuchung in den eigenen vier Wänden. Foto: Sarah Mussil.

Im lockeren Plauderton wird hier über sehr intime Themen gesprochen, dabei ist die Stimmung entspannt. Als freiberufliche Hebamme arbeitet Katja Brenner nicht in einem Untersuchungszimmer, sondern in den vier Wänden der Familien und schwangeren Frauen. Es entsteht eine vertraute Atmosphäre, in der alles gesagt und gefragt werden kann. Die Schwangere und ihr Wohlbefinden stehen im Mittelpunkt.

Katja Brenner ist mittlerweile seit 35 Jahren Hebamme. Nach verschiedenen beruflichen Stationen in Kliniken, gynäkologischen Praxen, freiberuflichen Tätigkeiten und Zusatzausbildungen, betreut sie seit 2020 Frauen vor und nach der Geburt. Damit ist sie eine von aktuell 18.652 freiberuflichen Hebammen, die dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen gemeldet sind. Das Tätigkeitsfeld der Freiberuflichkeit ist vielseitig und umfasst von der Schwangerschaftsvorsorge über die Geburtsvorbereitung- und Hilfe bis zur Wochenbettbetreuung alle Phasen einer Schwangerschaft und Geburt. Bei Katja Brenner kommen noch Zusatzqualifikationen wie die Anwendung von Taping, Akupunktur und die Durchführung von Rückbildungskursen hinzu. Wie bei Anne Stüwe geht es in den Gesprächen vor der Geburt oft um Schwangerschaftsbeschwerden. Je nach Zeitpunkt in der Schwangerschaft sind das andere. Übelkeit, Kreislaufprobleme, Verstopfung, Hämorrhoiden, Wassereinlagerungen, Rückenschmerzen. Die Liste ist lang. Der Körper befindet sich schließlich in einer Extremsituation. Während einer Schwangerschaft sollte die Frau alle vier Wochen, ab der 32. Schwangerschaftswoche alle zwei Wochen einen Vorsorgetermin wahrnehmen. In einer gynäkologischen Praxis ist die Zeit knapp und der Fokus liegt mehr auf der Behandlung von möglichen gesundheitlichen Problemen, als auf dem allgemeinen Wohlbefinden der Schwangeren. Die Betreuung durch eine Hebamme ermöglicht die Untersuchung in gewohnter Umgebung: auf der heimischen Couch.

Für jede Situation ein passendes Hilfsmittel. Foto: Sarah Mussil

So wie jetzt bei Anne und Erik Stüwe. Sie liegt mit hochgezogenem Pullover auf ihrer Couch. Katja Brenner setzt sich daneben und tastet nach dem ungeborenen Kind. Darf ich, fragt sie, erst dann berührt sie den Bauch. Mit ruhiger Stimme erklärt sie den werdenden Eltern ihr Vorgehen und tastet vorsichtig nach dem Fötus. „Dann schauen wir mal, ob wir die Herztöne von eurem Zwergi hören“. Aus ihrer Hebammentasche zieht sie ein Ultraschall-Herzfrequenzmessgerät und schmiert etwas Ultraschallgel auf den runden Bauch. Im Wohnzimmer ertönen schnelle, regelmäßige Herztöne. Auf die Frage warum sie die Vorsorgetermine nicht in einer gynäkologischen Praxis wahrnimmt, antwortet Anne Stüwe: „Katja fragt mich mehr als meine Ärztin. Hebammen haben einfach mehr Zeit für die Frauen.“

Fachkräftemangel trotz kontinuierlichen Zulaufs

 

Keine Zeit für die Frauen. Das ist einer der Gründe warum sich Katja Brenner vor über zehn Jahren gegen die Arbeit in der Geburtshilfe entschieden hat. Die fehlende Zeit ist das Ergebnis der seit Jahren diskutierten schlechten Arbeitsbedingungen des Hebammenberufs. Eine weitere Berufsgruppe, neben Kranken-, Kinder- und Altenpflege, in der es an Fachkräften fehlt und die sich von der Politik und der Gesellschaft alleine gelassen fühlt. Anders als erwartet wird der Fachkräftemangel nicht durch zu wenige Ausbildungsabsolvent*innen hervorgerufen. Aktuell gibt es schätzungsweise 27.000 ausgebildete Hebammen in Deutschland. Hinzu kommt, dass es seit 2020 keine Ausbildung mehr gibt, sondern ein duales Studium der Hebammenwissenschaft. Die Akademisierung ermöglicht eine Gleichstellung mit anderen Fachgruppen. Auch Katja Brenner sieht diese Entwicklung positiv, um mit Ärzt*innen auf Augenhöhe arbeiten zu können. Das Erfahrungswissen solle nur nicht verloren gehen. Das Studium ist attraktiv für junge Menschen. In einem Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) betont die Präsidentin des Hebammenverbands, Ulrike Geppert-Orthofer, dass es immer noch mehr Bewerber*innen als Studienplätze gebe.

Genügend Hebammen, ausgebildet und in Ausbildung, gibt es also. Nur scheinen sie nicht lange genug in ihrem Beruf arbeiten zu wollen oder zu können. Die Rahmenbedingungen zwingen sie zum Aufgeben. Die Arbeitsbelastung in den Kliniken steigt seit Jahren massiv. Es wird im Schichtsystem gearbeitet, was bei Personalmangel eine Arbeitszeit von bis zu zwöf Stunden bedeuten kann.  Anstelle der empfohlenen und im Koalitionsvertrag der Ampel festgehaltenen eins-zu-eins Betreuung, muss sich eine Hebamme häufig um drei oder mehr Frauen parallel kümmern. Pausen müssen für die liegengebliebene ausführliche Dokumentationsarbeit gestrichen werden. „Die Kreißsäle sind chronisch unterbesetzt. Und es sind zu wenig Stellen, die dort überhaupt ausgeschrieben sind, sodass man diese Arbeit vernünftig ausüben könnte,“ erzählt Katja Brenner. Im Bereich der Vorsorge und Wochenbettbetreuung gibt es ebenfalls eine Unterversorgung. Obwohl jede krankenversicherte schwangere Person einen gesetzlichen Anspruch auf die Begleitung durch eine Hebamme hat, ist es schwierig Fachkräfte mit freien Kapazitäten zu finden. Und das nicht nur in ländlichen Regionen.

Auch Katja Brenner kennt das Gefühl den Frauen und dem eigenen Berufsethos nicht gerecht werden zu können, in einem System, das einer fürsorglichen Betreuung entgegensteht. Die Freiberuflichkeit eröffnet zwar mehr Möglichkeiten, aber auch hier gibt es klare zeitliche Eingrenzungen. „Für einen Wochenbettbesuch bekommen Hebammen 38 Euro von der Krankenkasse. Angesetzt ist ein Termin für höchstens 20 Minuten.“ Wer Katja Brenner zu ein paar Terminen begleitet, merkt sofort, dass diese Angabe an der Realität vorbeigeht. Nimmt man sich genug Zeit und geht auf die Bedürfnisse der Frauen ein, macht man zwangsläufig Verluste. Hinzu kommen Kosten für die Krankenversicherung als Selbstständige*r und Abgaben an die staatliche Rentenversicherung. Katja Brenner weiß auch um die Schwierigkeiten ihrer freiberuflichen Kolleg*innen in der Geburtshilfe. Diese müssen zusätzlich eine Haftpflichtsversicherungsprämie zahlen, die aktuell bei 10462,20 Euro jährlich liegt. „Wenn du dir überlegst, dass du für eine Geburt zwischen 200 Euro bis 300 Euro bekommst, dann kannst du dir vorstellen wie schwer es ist, das zu erwirtschaften.“

Fürsorgliche Betreuung

An einem Donnerstagnachmittag sitzt Katja Brenner in ihrem kleinen Büro, welches sie sich zu Hause eingerichtet hat. In dem Aktenschrank hinter der Tür und den Regalen stapeln sich Broschüren, Magazine, Bücher, kleine Proben für Cremes, Kühlpads für vom Stillen beanspruchte Brustwarzen und sterile Ampullen für die Blutabnahme. Besonders springt einem die Fotowand direkt über dem Schreibtisch ins Auge. Von da Lächeln und Gähnen einen frisch geborene Säuglinge und ihre glücklichen Familien an. Eine ständige Erinnerung für Katja Brenner, warum ihr Beruf eine Berufung ist. Die Fotos und Danksagungen verdeutlichen aber auch die Vulnerabilität von Frauen in dieser kräftezehrenden Lebenssituation. „Es ist sehr wichtig, dass Frauen und Paare in der Schwangerschaft, während der Geburt und auch im Wochenbett Unterstützung bekommen, um zu verstehen was da mit ihnen passiert.“

Katja Brenner zwischen Baby-Fotos, Broschüren und Creme-Proben. Foto: Sarah Mussil.

Nach der Geburt steht das Leben für Mütter und Partner*innen von einer auf die andere Minute Kopf. Alles ist neu und kann dadurch auch sehr beängstigend sein. „Viele Schwangere und Paare gehen davon aus, dass man schon aus dem Bauch heraus weiß wie das alles mit einem Kind funktioniert. Und dann stellt sich heraus: das ist gar nicht so“. So ging es auch Mila Schrade, 27, vor der Geburt ihrer Tochter. „Ich dachte: dir ist schon klar, was da passieren muss.“ Heute ist sie sehr froh über die Wochenbettbetreuung durch eine Hebamme. „Ohne eine Hebamme brauchst du schon ein sehr enges Verhältnis zu deiner Familie, damit man das alleine wuppen kann.“ Um die Betreuung hat sie sich bereits im vierten Monat ihrer Schwangerschaft gekümmert und fand dennoch nur zwei Hebammen mit freien Kapazitäten. Mit einer passte es zwischenmenschlich zum Glück gut. In den ersten zehn Tagen nach der Geburt kam die Hebamme täglich bei Mila Schrade vorbei, danach wurden die Abstände zwischen den Besuchen größer. Bis das Kind zwölf Wochen alt ist hat man Anspruch auf weitere 16 Termine. In der Wochenbettbetreuung untersucht die Hebamme Mutter und Kind und bietet Rat und Hilfe zu den verschiedensten Themen an. „Am ersten Tag wurde mein Mann direkt mit einem Einkaufszettel losgeschickt. Sie hat uns für alles Mögliche Tipps gegeben. Von der richtigen Kleidung für das Baby bei Hitze, bis zu Kohlblättern für meine schmerzenden Brüste.“

Bei Mila Schrade gab es zum Glück keine großen Schwierigkeiten. Aber Katja Brenner weiß wie anstrengend und verunsichernd das Wochenbett sein kann. Die Mütter und Paare sind im Umgang mit den Kindern oft verunsichert. „Wir können ihnen ein Selbstbewusstsein geben, ein Urvertrauen, dass sie ihre Sache gut machen. Gleichzeitig können sie ohne Verurteilung Fragen stellen.“ Damit lege man einen Grundstein, damit verunsicherte Eltern keine verunsicherten Kinder, sondern starke Persönlichkeiten erziehen. Man ist nicht von „Natur“ aus Mutter oder muss die Umstellung auf ein neues Leben alleine schaffen, auch wenn dieses Bild selbst in der heutigen Gesellschaft noch immer propagiert wird. Im schlimmsten Fall führt diese Annahme dazu, dass Mütter alleingelassen zu Hause sind und an ihrer Situation verzweifeln. „Es ist total normal, wenn man sagt, dass man auch mal müde, erschöpft, verzweifelt ist. Dass es vielleicht nicht so läuft wie man es sich vorgestellt hat. Und trotzdem hat man auch dieses Glücks- und Zugehörigkeitsgefühl, diese Liebe f ür das Kind.“

Ein neuer Termin, eine neue Familie. Katja Brenner sitzt an einem Esstisch. Ihr gegenüber eine schwangere Frau. An der rechten Seite des Raums steht ein hohes Bücherregal, auf dem Boden verstreut liegt Spielzeug. „Wie geht’s“, fragt Katja Brenner lächelnd. Und die Frau ihr gegenüber beginnt zu erzählen.1

  1. Hinweis: Alle in diesem Beitrag vorkommenden Personen wurden anonymisiert. Alle genannten Namen wurden zum Zwecke des Schutzes der Privatsphäre geändert. ↩︎

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