Die schwere Glastür schwingt auf, Musik ertönt, ein Mann mit Wuschelkopf öffnet mit einer weißen Kaffeetasse in der Hand, die mit Konzertplakaten beklebte Tür. Er erlaubt einen ersten Einblick in das „Vinyl-Reservat“. „Hier ist es immer nicht so aufgeräumt,“ lacht er. Überall stehen und liegen große und kleine Platten -Cover mal bunt, mal schwarzweiß, mal mit Bandbild drauf- Solisten, schräge Tierwesen und allerhand mehr springen suchenden Kunden entgegen. Zu den Klängen von Quicksilvers Album „What about me“ stöbern Kunden in hellen Holzregalen, Boxen und Regaltischen voller Platten. 40.000 Longplayer und tausend Singles tummeln sich im „Vinyl-Reservat“. Als Longplayer werden Alben bezeichnet. Singles sind Tonträger, die im Gegensatz zu einem Album meistens nur zwei Titel eines Künstlers enthalten. Die Variante zwischen Album und Single heißt EP. Oft sind es Schallplatten, die kein vollständiges Album bilden, aber auch zu viele Titel enthalten, um als Single zu gelten.
Das „Vinyl-Reservat“ bietet eine sehr große Auswahl an Schallplatten: Von einer Folksammlung über Standardsachen bis hin zu afrikanischer Musik ist für jeden etwas dabei. „Für einige Musikgenres spielt Vinyl eine besondere Rolle. Im Hip-Hop zum Beispiel ist Vinyl sowas wie ein Instrument in den Händen eines guten DJ. In der Elektronischen Musik ist das ähnlich. In beiden Richtungen gab es aber immer viel weniger Vinyl als im Rock-Pop Bereich, da in den 90ern kaum was an Vinyl gepresst wurde,“ erklärt Inhaber Hans Philipp Schubring und beäugt dabei eine Schallplatte in seiner Hand. Bei der Schallplattenpressung wird erwärmte Kunststoffmasse mit den Etiketten zwischen zwei Pressmatrizen gelegt, je eine Pressmatrize oben und unten für die Schallplatten Seite A und Seite B. Bei einer Temperatur von rund 150 Grad und unter hohem Druck werden die beiden Pressmatrizen mit der Masse für einige Zeit zusammen gepresst. Die herausgequollenen Kunststoffreste werden abgeschnitten. Danach wird das fertige Produkt abgekühlt und die neue Schallplatte ist fertig. „Ich denke aus der Rockmusik ist das Vinyl nicht wegzudenken, da in der Zeit, wo Rock groß gewesen ist, auch das Vinyl groß war,“ meint Hans Philipp.
Vom Gänseliesel aus die Rote Straße hoch, auf der linken Seite, wo einst ein Herrenausstatter seine Türen öffnete, befindet sich der leicht chaotische Laden. Seit eineinhalb Jahren erklingt hier Vinyl. Hans Philipp verkauft ausschließlich analoge Tonträger. „Ich und Motion haben vor sieben Jahren im Papendiek mit einem relativ kleinen Laden gestartet.“ Motion ist Hans Philipps ehemaliger Geschäftspartner. „Wir haben beide schon vorher auf Flohmärkten verkauft, ich war oft bei der Nikolaikirche. Wir sind selber Sammler und schon das ganze Leben musikinteressiert und zu dem Zeitpunkt gab es keinen Vinyl Laden in Göttingen mehr.“ An einen Flohmarkt erinnert im Kundenkontakt das Feilschen um den Preis, nichts wirkt gebunden.„Nach drei Jahren sind wir innerhalb des Papendieks in einen größeren Laden umgezogen. Im Oktober 2015 folgte der Umzug in die Rote Straße. Motion wollte nicht mit und wurde ausgezahlt. So mache ich das hier jetzt allein, also natürlich nicht ganz allein, ich habe Alex und Minijobber,“ erzählt Hans Philipp. Der freundliche Lockenkopf besteht auf das „Du“ und hält mit vielen Kunden ein Schwätzchen. Das ganze Ambiente des Ladens versprüht Wohnzimmercharme. Eine Couchinsel in der Mitte des Ladens und viel Krimskrams hier und da unterstützen dieses Feeling. Mehrere bunte Jacken hängen über dem Verstärker, Topfpflanzen stehen auf den Plattenregalen und an der Kasse grinst der blaue Elefant aus „die Sendung mit der Maus“ die Kunden frech an.
Wo in anderen Läden die leeren Schirmständer stehen, sind sie hier gefüllt und zusätzlich mit Spielzeugpferden für die kleinen Kunden dekoriert, wenn Papa oder Mama sich bei der großen Auswahl mal wieder nicht entscheiden können. Mehrere Gitarren und eine Konga, eine große Fasstrommel, stehen zum Musizieren bereit und ermöglichen neben dem Musikkauf auch das Erlernen.„Ich wollte einen sozialen Raum schaffen. Ein Treffpunkt für musikinteressierte Leute, die andere Menschen treffen die Musik hören.“ Im hinteren Winkel des Ladens hilft ein langhaariger, professioneller Musiker einem älteren Gitarrenanfänger beim richtigen Griff des G-Akkordes. „Ausstellungen und Konzerte finden hier auch regelmäßig unregelmäßig statt. Wenn jemand eine musikbezogene Idee hat, einen Workshop Vortrag oder Konzert plant, versuche ich das hier möglich zu machen. Und wenn ich mal nicht genug Platz habe, arbeite ich mit dem Dots zusammen.“ Gerade sind Bilder eines örtlichen Künstlers ausgestellt. „Ist ja hier ein super cooler zentraler Raum.“ Eine andere Aktionen ist zum Beispiel der Hip-Hop Stammtisch, der einmal im Monat stattfindet.
„Es ist einfach was anderes, die Platten in der Hand zu halten.“
Eine Statistik des Bundesverbandes Musikindustrie aus dem Jahr 2016 stellt den Absatz von Schallplatten in Deutschland in den Jahren 2003 bis 2016 in Millionen Einheiten dar. Den Boom, den die Vinyl-Branche in den letzten Jahren erfahren hat, ist deutlich ablesbar. Waren es im Jahr 2006 nur 0,3 Millionen verkaufte Platten, gingen 2016 2,1 Millionen Platten über die Ladentheke. Aber warum ist das so? Wo doch an jeder Ecke ein neuer DJ entdeckt wird und Spotify und Youtube den Musikzugang so leicht wie noch nie machen. Hans Philipp schwärmt: „Es geht um die Musik. Bei Platten handelt es sich um Gesamtkunstwerke. Hätte zum Beispiel Pink Floyds „Darkside of the moon“ ein anderes Cover, würde man alles ganz anders wahrnehmen.“ In der Tat gehen durch die gezielte digitale Suche eines Titels oder Künstlers die teils liebevoll gestalteten Cover unter. „Die Rezeption der Musik ist auch eine andere als wenn man MP3s hört. Die Musiker haben sich bei Titelabfolge ja auch was gedacht, bei der Shuffle Funktion geht das verloren.“ In dem Moment verstummt die Musik.„Diese Pause gehört auch dazu, sie erlaubt über das Gehörte nachzudenken. Auf Platten muss man aufpassen, allein durch das Umlegen ist mehr Aufmerksamkeit gefragt.“
Alex, der Hans im Laden hilft, sieht das ähnlich: „Primär ist es die Musik die mich interessiert. In den 80er Jahren habe ich mir auch mal ein paar CDs gekauft, bin aber schnell wieder zu den Platten zurückgekehrt. Bei Platten, da hat man was in der Hand und sie klingen einfach toll. Bei Spotify guckt man ja gezielt und hier entdeckt man Sachen, die man sonst vielleicht nicht entdeckt.“ Für viele liegt der Reiz bei dem anderen Musikklang und der Art des Abspielens. „Es ist schon ein Unterschied ob man einfach Play drückt oder die Nadel in die gewünschte Spur bringt.“ Ein junger Mann mit Bart, Zopf und Hipster-Brille kann gar nicht genau sagen, was der Reiz für ihn ausmacht, verschmitzt lächelnd schaut er von der Plattensuche hoch. „Ich habe einen alten Plattenspieler von meinem Opa gefunden und so hat es angefangen. Es ist einfach cool. Mal ein anderes Medium.“
In einem kleinen hellen Raum mit Barhocker, Schallplattenspieler und schwarzen Kopfhörern ausgestattet, kann jeder Besucher in seine Fundstücke reinhören. Die Enge des Raumes verschwindet völlig, wenn die satten Klänge der Test-LP durch die Kopfhörer schwingen. Es ist nicht nur der Klang, der in diesem Moment verzaubert, sondern auch das Ritual des Auflegens. Das kurze kratzige Geräusch und die ganze physische Präsenz des Vinyls machen diesen Musikgenuss zu etwas Besonderem. Egal welche Musikrichtung erklingt. Ein Pärchen testet, sich den Kopfhörer teilend, Irish Folk auf seine Hörbarkeit. Die Folksammlung im Vinyl-Reservat ist riesig, 3500 Platten hat Hans Phillip zusammengetragen. Sie besteht seit kurzem auch aus Irish, US und UK Folk. Das Programm ist von den Ankäufern abhängig. Heißt: die Nachfrage und die Verfügbarkeit sind entscheidend. Die Platten werden von privaten Leuten angekauft, sind also alle secondhand, „und die Leute bringen mir das meist sogar. Bei größeren Geschichten fahre ich hin. Börsen besuche ich auch und habe darüber schon Kontakte für größere Ankäufe bekommen oder da was gekauft.“ Durch die Vielfalt finden Vinylenthusiasten und Klangnostalgiker im „Vinyl-Reservat“ eine neue Pilgerstätte. Aber auch neugierige Audiopubertäre oder aufgeschlossene „Normalbürger“ finden hier einen ruhigen Ort der Gemütlichkeit, um den Kosmos alter und neuer Tonträger kennenzulernen.
„Ich versuche möglichst viele Musikfelder abzudecken und das dann gut zu sortieren. Ich bin halt musikjunkie-mäßig drauf,“ grinst Hans Phillip. Dennoch geht „super viel übers Internet.“ Da das „Vinyl-Reservat“ weltweit konkurriert, muss Hans vor allem spezielle Platten einkaufen. Für die, die Kunden entsprechend viel Geld ausgeben und am besten niemand anderes anbieten kann. „Oder bei Standardsachen, wie die Stones, Motörhead und Pink Floyd kann man im Preis den Unterschied machen.“
Etwas ironisch ist es schon, dass der Boom des Analogen durch das Digitale unterstützt wird. Neben Vinyl Läden bietet zum Beispiel auch das Label „Universal Music“ über 100 000 Platten auf ihrer Website an. Aber anstatt eines anonymen Klicks im Internet, lädt das „Vinyl Reservat“ zu einer Zeitreise in die analoge Welt ein. Mit Ausnahme zweier sichtbarer Computer endet dieser Eindruck auch nicht beim Bezahlen. Denn: Kartenzahlung nicht möglich. „Das macht vielleicht auch den Charme eines solchen Ladens aus,“ meint Alex. Der Reiz von Vinyl liegt also nicht nur am unvergleichbaren Musikklang, sondern hängt auch viel mit dem Flair und dem Gefühl ein Stück Kunst aus einer anderen Zeit in der Hand zu halten, zusammen. Nach dem letzten Zusammenkratzen des Bargelds werden die Vinylenthusiastenmit einem freundlichen „Bis bald“ verabschiedet. Voller Vorfreude auf das Vinylerlebnis Zuhause fällt die Glastür sanft ins Schloss und die digitale Welt erfasst die Zeitreisenden wieder.