„Das kann alles Mögliche sein. Gefühlsausbrüche oder politische Themen. Das male ich. In Acryl, Aquarell, Bleistiftsskizzen, mit dem Kugelschreiber. Das kommt einfach so. Das geht Ruckzuck und dann ist das fertig“

Stefan Marx

Es ist früher Vormittag an einem regnerischem Januar Wochenende. Die Wolken hängen tief und grau über den Gebäuden der Göttinger Innenstadt. Zwischendurch fallen vereinzelnd Regentropfen auf die PassantInnen, die mit Regenschirmen, Kapuzen und Schaals über ihren Köpfen schnell von einem Laden zum nächsten stürmen. Eine Vielzahl der sichtbaren Mundwinkel zeigen in Richtung Fußboden, was die allgemeine Stimmung über das Wetter an diesem kalten, regnerischen Januarwochenende erahnen lässt.

Auch auf dem Fußgängerweg zwischen Volksbank und Parkplatz am Geismartor gibt es kein Innehalten. Nur Menschen, die versuchen dem ungemütlichen Wetter zu entfliehen. In schnellen Schritten laufen sie an einem Mann vorbei. Die grelle rote Veste mit der Aufschrift „Asphalt“ hebt sich deutlich vom Rest der tristen Landschaft aus Gebäuden und kahlen Bäumen ab. Mit Kappe und Maske ist wenig von seinem Gesicht zu erkennen. Das Einzige, dass zu sehen ist, sind stahlblaue Augen, die freundlich zwischen Schirm und oberen Maskenrand hindurchblitzen und von tiefen Lachfalten eingerahmt werden. Ein Fels in der Brandung – so steht Stefan Marx seit dem frühen Morgen an seinem Verkaufsplatz, wie jeden Tag. Von diesem ungemütlichen Wetter lässt er sich nicht mehr beeindrucken, denn er hat immer sein Survivalpack dabei. Weder Regen noch der peitschende Wind oder Schnee halten ihn von seiner Arbeit ab. Im April 2022 feiert er sogar sein zehnjähriges Jubiläum als Straßenverkäufer.

Foto: Mareile Krüger

Vom Bonanza-Rad auf die Straße

Vor 56 Jahren wurde Stefan im nahegelegenen Northeim geboren. Mit seinem Bonanza-Rad fuhr er des Öfteren in die nächstgrößere Stadt, die nun auch seine Heimat ist. Zwischen Northeim und Göttingen liegen allerdings noch einige Zwischenstopps in seinem Leben.

Foto: Stefan Marx

Nach der Schule lernt Stefan Elektroinstallateur und arbeitet in Deutschlands Hauptstadt Berlin. Nach seiner Weiterbildung zum Energie-Elektriker merkt er aber, dass es an der Zeit für einen neuen Weg war. 1998 beginnt er mit einem Studium in Betriebswirtschaftslehre in Clausthal-Zellerfeld und arbeitet daraufhin als Außendienstler. EDV-Zubehör und Bürobedarf waren ab jetzt sein Fachgebiet.

Alles verlief in geregelten Bahnen. Stefan verdient gutes Geld, ist verheiratet und wird bereits in seinen frühen Zwanzigern Vater zweier Kinder, über die er mit strahlenden Augen berichtet. Der Stolz ist ihm in seiner zittrigen Stimme anzumerken, allerdings auch die Trauer. Die Lachfalten, die das ganze Gespräch lang tief um seine Augen gelegen haben, verloren ihre Kontur. Das Leuchten seiner Augen verblasste ein wenig, als Stefan seine Blicke vermehrt dem Boden schenkt. Der Kontakt zu seinen Kindern ist abgebrochen, seine Frau neu verheiratet. Nachdem er eine Stelle im Ausland ablehnte, verlor er seine Festanstellung. Die Jobsuche in Göttingen war hart. Das Amt schickte fast nur Stellen, die entweder nicht seinem Profil entsprachen oder für die er überqualifiziert war. Die Abwärtsspirale nahm Fahrtwind auf. Er wurde krank und verlor den Boden unter den Füßen, sein Dach über dem Kopf. Ein Dreiviertel Jahr hat Stefan keinen festen Wohnsitz. Aber all das liegt jetzt schon lange hinter ihm. Eine kleine, aber feine Ein-Zimmer-Wohnung in Göttingen ist sein Zuhause, frisch gestrichen und tapeziert.

Wenn man Stefan ansieht – das freundliche Gesicht und sein ehrliches Lächeln – kann man kaum glauben, was er schon alles durchmachen musste. Die dunklen Jahre seines Lebens sind jetzt nur noch Erinnerungen an eine Person, die er schon lange hinter sich gelassen hat. Er wirkt glücklich. Attribute die ihn besser beschreiben als seine Geschichte: humorvoll, warmherzig, kreativ. Aber vor allem ist er zufrieden mit seinem Job als Straßenverkäufer.

Trotz Wind und Wetter: „Der steht eigentlich immer da!“

Das Bezeugen auch die Menschen, die in der Bushaltestelle vor der Volksbank ungeduldig auf ihre Mitfahrgelegenheit warten. Auch in dem kleinen Häuschen ist die Hoffnung auf Schutz vor dem peitschenden Wind vergebens. Auf die Frage, wo ich den Asphalt-Verkäufer finden könne, war die Antwort stets dieselbe: „Da vorne neben der Volksbank. Der steht eigentlich immer da!“. Immer – auch dann, wenn die meisten die Gelegenheit nutzen um vor ihren heimischen Fernsehern gemütlich eine Tasse Kaffee zu trinken und der einzige Kontakt mit der Außenwelt ein flüchtiger Blick aus dem Fenster ist. So ist das, wenn der Arbeitsplatz die Straße ist. „Jeder Tag ist wie ein Lottospiel. Manchmal bin ich gut frequentiert. An anderen Tagen verkaufe ich so gut wie Nichts.“

„Ich arbeite gerne hier. Ich mag die Leute und dass ich kommen und gehen kann, wie ich will. Aber eigentlich stehe ich jeden Tag hier“

Stefan Marx

Stefan hat sich bereits viele Stammkunden angelacht. Man unterhält sich; erfährt so einiges über die Leute, die sich fünf Minuten für ein lockeres Gespräch mit dem sympathischen Straßenverkäufer Zeit nehmen. Wenn man mit ihm eine Runde durch die Straßen der Göttinger Innenstadt schlendert, ist kaum zu übersehen, was für ein großes Netzwerk er sich bisher aufgebaut hat. An jeder Ecke kommen uns Menschen entgegen, die den Arm grüßend in unsere Richtung heben oder mit einem sanften Zunicken ein schüchternes „Hallo“ andeuten. „Die Leute sind immer etwas zurückhaltender, wenn die Presse da ist“. schmunzelt er zu mir herüber. Zu fast jeder Person weiß Stefan ein, zwei Tackte zu erzählen: Woher man sich kennt, über Job und Hobbys. „Das liebe ich daran, Straßenverkäufer zu sein. Man lernt so viele verschiedene Menschen kennen. Es ist jeden Tag was anderes“. Nicht immer sind es positive Erfahrungen, die er gemacht hat. „Such dir mal nen richtigen Job“ ist nur eines von vielen Beispielkommentaren, die er hinnehmen muss. „Aber das ist ein richtiger Job. Es ist nicht einfach, sich jeden Tag bei Wind und Wetter hier hinzustellen“. Und diese Überzeugung teile ich mit Stefan. Bereits nach einer halben Stunde waren meine Beine und Füße so gut wie taub.

Eine Sache, die den AsphalterInnen wirklich wichtig ist: Sie betteln nicht. Stefan ist noch nie jemanden hinterhergelaufen oder hat Leute bedrängt, damit sie ihm seine Zeitung abkaufen. Wenn sich jemand zum Kauf entscheidet, freut er sich genau so darüber, wie über ein nettes Gespräch.


FACT BOX

  • Die Asphalt ist ein soziales Straßenmagazin, das in 15 Städten Niedersachsens verkauft wird
  • Das Magazin kostet 2,20.- pro Heft, in Göttingen & Kassel 2,50.-
  • Jeden Monat erscheint eine neue Ausgabe mit je 40 Seiten
  • Die monatliche Auflage beträgt durchschnittlich 26.500 Zeitungen
  • Die Asphalt erreicht monatlich rund 58.000 LeserInnen

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Wenn die Kundschaft ausbleibt

Momentan ist die Lage für die VerkäuferInnen der Asphalt wieder stabiler. Das war eine lange Zeit nicht so. Corona hat Stefan und seine KollegInnen hart getroffen. „Vor Corona stand ich an der Uni. Nachdem der Campus so leer war, hab ich um einen neuen Platz gebeten“. Die Verschiebung von Präsenz- zu Onlinelehre der Georg-August-Universität hat den sonst so belebten Verkaufsplatz von Stefan leer zurückgelassen. Durch den Lockdown waren kaum noch Menschen auf den Straßen unterwegs. Eine notwendige Bedingung, die innerhalb kürzester Zeit wegbrach. Wer die Asphalt verkauft, erhält kein Festgehalt. Pro Zeitung bekommen die VerkäuferInnen die Hälfte des Erlöses und gegebenenfalls Trinkgeld. Stefan selbst bezieht zudem Erwerbsminderungsrente. Wer nichts verkauft, büßt Erlös und Trinkgeld ein. Zu Beginn der Pandemie haben Stefan und seine KollegInnen Einkaufsgutscheine vom Asphalt-Team erhalten. So konnte zumindest die Grundverpflegung gesichert werden.

Das war aber nicht das erste Mal, das Stefan Marx um seine Existenz bangen musste. Vor zwei Jahren wurde er noch nicht als „Asphalter“ betitelt. Die Zeitung, die er Jahre lang verkaufte, hieß Tagessatz. Vom Konzept her, war die Zeitung mit der Asphalt vergleichbar und wurde in Göttingen und Kassel angeboten. Nach einem Skandal stand die Zukunft der sozialen Straßenzeitung allerdings lange auf der Kippe. Die Asphalt übernahm die VerkäuferInnen und ein neues Heft wurde geschaffen. Seither erscheint der ehemalige Tagessatz unter dem Namen Asphalt/Tagessatz. Das war die Rettung für den 56-Jährigen aus Göttingen.

Kunst & Asphalt

Neben der Asphalt-Zeitung ist für Stephan noch etwas Anderes besonders wichtig: Kunst. Erst kürzlich war er selbst mit zwei weiteren kunstinteressierten AsphalterInnen in der Straßenzeitung 01/22 abgebildet. In dem Interviewartikel „Kunst trifft Straße“ trafen die Drei auf Reza und Iswanto. Sie gehören zu der ruangrupa; den diesjährigen Kuratoren der documenta fifteen, die Mitte 2022 in Kassel stattfinden wird.

Foto: documenta fifteen
Von links: Daniella Fitriab, Iswanto Hartono, Stefan Marx, Stefan Marx, Volker Macke, Reza Afisina

Für Stefan ist die documenta kein Fremdwort. Bereits 2017 war er bei der documenta 14 dabei. Welche Bedeutung das für ihn hat, merkt man an seiner Vorfreude auf die nächste Ausstellung, bei der er nicht fehlen will. Was genau passieren wird, weiß er noch nicht. Er bleibt aber gespannt, ob das Asphalt-Team etwas organisieren kann: „Ich freue mich immer wieder über Überraschungen. Das ist schon großartig“.

Wenn Stefan einen Künstler benennen müsste, den er besonders mag und der ihn inspiriert, dann wäre es wohl Gerhard Richter. Wobei seine Antwort sehr zögerlich klang. Eigentlich mag er viele KünstlerInnen, so richtig entscheiden kann er sich nicht. Wenn er selbst zum Pinsel greift, dann malt er vor allem Dinge, die ihn besonders beschäftigen:

„Das kann alles Mögliche sein. Gefühlsausbrüche oder politische Themen. Das male ich. In Acryl, Aquarell, Bleistiftsskizzen, mit dem Kugelschreiber. Das kommt einfach so. Das geht Ruckzuck und dann ist das fertig“

Stefan Marx

Ein paar seiner Bilder hat Stefan mir zur Verfügung gestellt:

Neben der Arbeit mit Stiften und Pinseln versteht Stefan sich auch auf die Fotografie. Er hat ein Auge für spannende Motive, die er schnell mit seiner Kamera für die Ewigkeit aufhebt. Ob seine Arbeit anderen gefällt, ist für ihn nicht das wichtigste. Kunst ist seine Leidenschaft, wenn sie anderen gefällt, um so besser. „Ich könnte mir schon vorstellen, meine Sachen irgendwann mal zu verkaufen. Es gibt hier auch schon ein Fenster in der Nähe, da stehen schon Bilder von mir“.

Neben seinem Blick für Ästhetisches, lebt er seine Kreativität auch in anderen Bereichen aus. Mit Anzupacken und Dinge mit seinen Händen zu kreieren gehört für Stefan genau so mit dazu, wie ruhig dazusitzen und seinen Gefühlen Raum zu geben.

Fotografien und Werke von Stefan:

Zweieinhalb Stunden sind vergangen. Das Wetter ist fast noch ungemütlicher als am Vormittag. Nach unserem kleinen Stadtrundgang nimmt Stefan wieder seinen Platz vor der Volksbank ein. Die Asphalt vor seinen Körper haltend steht er genauso dort, wie ich ihn ein paar Stunden zuvor antraf: Wie ein Fels in der Brandung; sein Lächeln trotz Maske deutlich sichtbar. Ein junger Mann hielt kurz Inne und nahm sich die Zeit für ein Gespräch. Die Hände tief in den Taschen vergraben erzählte er von seinem Studium, bevor er sich verabschiedete und den Heimweg antrat. Ein paar weitere Leute eilten grüßend an ihm vorbei. Ein paar Minuten vergingen, bevor er mich ansieht und sagt „Ich mache jetzt auch Feierabend. Das war ein langer Tag“.

Ein Gedanke zu „Zwischen Kunst und Asphalt – Das Leben eines Straßenverkäufers“

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